Die körperlichen Details, die zum Vergleiche herangezogen wurden, seien gewesen: die Kopfform, die Form des Gesichts, das Verhalten der Jochbeine, die Gestalt der Ohren, Wölbung, Verlauf und Behaarung der Augenbrauen, das Verhalten der Regenbogenhäute, Gestalt und Behaarung der Nasenwurzel, die Form der Nasen, die Schwingungslinien und Fülle der Lippen, die Form der Mundwinkel, der Verlauf der Mundspalte, die Bildung der Zähne, Gestalt des harten und weichen Gaumens, die Konfiguration und Richtung des Kinns. Sodann sei die Gestalt der Hände, Form und Länge der Finger und Nägel, der Verlauf der Hautfurchen in den Handtellern sowie die Wölbung des Fußes, endlich auch der Gang geprüft worden. Zum Typus der gräflich Brinski-Kwileckischen Familie gehören in erster Linie die mäßig längliche Gesichtsbildung und eine ziemlich lange, ein wenig gebogene und spitze, an der Nasenwurzel schmale Nase. Bei dem kleinen Grafen finden sich Anklänge der Ohrform an die der Frau Gräfin und der Komtessen, wenn auch von einer Identität der Ohrform des Knaben mit irgendwelchen Mitgliedern der gräflichen Familie ganz bestimmt nicht die Rede sein kann. Außerdem zeige der Knabe auch in der Art der Behaarung der Augenbrauen eine starke Anlehnung an die Familie der Frau Gräfin, er habe auch mit ihr die mäßige Behaarung der Nasenwurzel gemeinsam, endlich auch die dunkelbraune Farbe der Regenbogenhaut. Schließlich ähnele auch die Kinnbildung des Knaben derjenigen der Komtessen ganz auffallend; jedoch unterscheide sich das Kinn des Knaben von dem der Gräfin, wobei jedoch zu beachten sei, daß das Kinn bei älteren Personen stärker hervortritt. Von dem v. Zieglerschen Ohr unterscheide sich das des Knaben Joseph Stanislaus in wesentlichen Punkten Einen Familientypus für die drei zum Vergleich vorhandenen Mitglieder der Meyerschen Familie zu finden, sei nicht gelungen. Bezüglich der Ohren bestehe zwischen den drei Personen eine große Verschiedenheit. Ein Vergleich der Frau Meyer mit ihrem Sohne Felix sei dadurch besonders schwierig, daß das Skelett dieses Kindes durch schwere englische Krankheit ganz wesentliche Veränderungen erfahren hat. Aus demselben Grunde sei auch ein Vergleich dieses Knaben mit dem von Rachitis völlig verschonten Kinde Joseph Stanislaus gewagt. Um so mehr müsse es befremden, daß bei beiden Knaben genau die gleiche fehlerhafte Bildung im Bau der Genitalorgane wahrgenommen worden ist, doch sei der vorgefundenen Mißbildung kein allzu großer Wert beizulegen, denn die Erfahrung der Kinderärzte lehre, daß im Alter von sechs bis sieben Jahren der in Rede stehende Zustand doch noch dann und wann, jedenfalls nicht allzuselten, zur Beobachtung kommt, so daß das Vorhandensein gerade dieser Mißbildung bei beiden Knaben immerhin ein Zufall sein kann. Sonstige anatomische Obereinstimmungen zwischen dem kleinen Grafen und dem kleinen Felix Pracza finden sich noch in dem Verlauf der Handlinien und in der Nase, soweit die breite Nasenwurzel in Frage kommt, die ganz und gar von dem Kwileckischen Typus abweiche. Augenfällige Unterschiede zeigen sich bei dem durch Ecke und Gegenecke gebildeten Schnitt am Ohr. Der Gang der beiden Kinder könne wegen der Knochenverkrümmung bei dem Felix Pracza überhaupt nicht miteinander verglichen werden, was um so mehr zu bedauern sei, als gerade der Gang bei dem Joseph Stanislaus recht charakteristisch sei.
Ziehe man nun das Fazit aus all diesen Betrachtungen, so ergebe sich, daß zwar eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen den Gesichtszügen des Joseph Stanislaus und denen des Grafen und der Komtessen bestehe, und daß auch hinsichtlich der Ohrformen Anklänge zwischen dem Kinde und der Gräfin vorhanden seien, aber auch nur Anklänge, keineswegs eine Identität. Demnach habe die anatomische Untersuchung keine Anhaltspunkte für die sichere Zusammengehörigkeit des Knaben Joseph Stanislaus zu der gräflichen Familie ergeben, andererseits können die Sachverständigen aber auch nicht die Zusammengehörigkeit des umstrittenen Knaben zu der Familie der Frau Meyer sicher beweisen.
Der zweite Gutachter, Gerichtsarzt Medizinalrat Professor Dr. Straßmann schloß sich in den Einzelheiten dem Vorgutachten an. Die Kommission sei vor eine Aufgabe gestellt gewesen, wie sie wohl kaum jemals einem Gerichtsarzt vorgelegt worden sei. Es fehlten hier die Grundlagen für ein wissenschaftliches Gutachten und man könne hier auch nur ein Wahrscheinlichkeitsgutachten erwarten. Das Urteil über Ähnlichkeit sei ein sehr subjektives und es können Irrtümer vorkommen. Eine sichere Unterlage bilde schon das Vorhandensein von besonderen Familieneigentümlichkeiten oder von Abnormitäten. Er komme zu folgendem Ergebnisse: einerseits sei eine allgemeine Ähnlichkeit dieses Knaben mit dem anderen oder mit der Frau Meyer nicht vorhanden. Andererseits falle ins Gewicht, daß die Genitalien der beiden Kinder dieselbe Abnormität zeigen. Das Vorkommen dieser Abnormität sei zwar nichts Außergewöhnliches, auffallend sei es aber, daß sie gerade bei diesen beiden Knaben gleichzeitig vorhanden sei. Eine Abschätzung, welches dieser beiden Momente gewichtiger sei, lasse sich nicht machen. Daher könne hieraus auch kein Schluß weder nach der einen noch nach der anderen Seite gezogen werden.
Der dritte Gutachter, Kunstmaler Prof. Hugo Vogel, bemerkte auf Befragen, daß sein Spezialfach Geschichte und Porträt sei. Er erstattete alsdann folgendes Gutachten:
Das Urteil, das Sie von mir verlangen, wird ein subjektives bleiben müssen. Hier erscheint die Feststellung der Ähnlichkeit um so schwieriger, als der kleine Pracza entstellt ist durch schwere Rachitis. Immerhin finde ich, daß die Rachitis nicht imstande war, die Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Pracza und seiner Mutter zu verwischen. Daraus ziehe ich den Schluß, daß, wenn eine Ähnlichkeit vorhanden gewesen wäre, sie auch jetzt noch zu erkennen sein müßte zwischen dem kleinen Pracza und dem kleinen Grafen. Der Typus der beiden Kinder ist für mich, vom künstlerischen Standpunkt aus betrachtet, ein ganz verschiedener. Der kleine Graf hat ein gradliniges Profil, das des kleinen Pracza ähnelt dem seiner Mutter und Tante. Zwischen dem kleinen Grafen und der Frau Gräfin finde ich eine gewisse Ähnlichkeit. Die ovale Gesichtsform der Frau Gräfin hat etwas Viereckiges, das ist auch bei dem kleinen Joseph Stanislaus der Fall. Auf die Ohren soll ja nach der Versicherung der Herren Ärzte die Rachitis keine Einwirkung ausüben. Ich habe die Ohren der beiden Knaben mit einigen Strichen gezeichnet, und da finde ich als Künstler, daß das Ohr des kleinen Pracza ein ziemlich gewöhnliches ist, während das des kleinen Grafen ein recht charakteristisches, rassiges Aussehen hat und in bezug auf die Bildung eines kleinen Knöllchens hinter dem Ohre eine Übereinstimmung mit dem Ohr der Frau Gräfin zeigt. Ich komme also zu dem Schluß, daß eine unverkennbare Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Pracza und seiner Mutter besteht, daß aber andererseits auch eine Ähnlichkeit zwischen dem kleinen Grafen und der Frau Gräfin sowie seiner Schwester Komtesse Marie nicht zu leugnen ist.
Kriminalinspektor Klatt spricht sich auch dahin aus, daß das abzugebende Urteil unter den vorliegenden Verhältnissen nur ein subjektives sein könne. Gerade bei Ähnlichkeitsfragen kämen die größten Irrtümer vor. Als der Raubmörder Wetzel das schwere Verbrechen in Spandau begangen hatte und verfolgt wurde, ließ eine Frau einen Mann arretieren, in dem sie mit aller Bestimmtheit den Mörder, den sie unmittelbar nach der Tat gesehen, wiedererkennen wollte. Gleich ihr ging es noch vielen anderen Leuten, bis es sich herausstellte, daß der Verhaftete das Opfer einer auffallenden Ähnlichkeit mit dem Täter geworden war. Einer der berühmtesten Kriminalbeamten, die es je gegeben, sei der verstorbene Kriminalkommissar Wolschina gewesen. Dieser habe einmal auf dem Hinterperron eines Pferdebahnwagens gestanden, als er einen lange gesuchten schweren Verbrecher vor einem Schaufenster stehen sah. Er sprang hinunter und packte den Gesuchten mit den Worten: »Nun habe ich dich endlich!« Der Ergriffene habe ruhig gefragt: »Was wollen Sie von mir, Herr Kommissar?«
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