Hugo Hofmannsthal - Die Briefe des Zuruckgekehrten
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Hugo von Hofmannsthal
Die Briefe des Zurückgekehrten
Der erste
So bin ich nach achtzehn Jahren wieder in Deutschland, bin auf dem Weg nach Österreich, und weiß selbst nicht, wie mir zumut ist. Auf dem Schiff machte ich mir Begriffe, ich machte mir Urteile im voraus. Meine Begriffe sind mir über dem wirklichen Ansehen in diesen vier Monaten verlorengegangen, und ich weiß nicht, was an ihre Stelle getreten ist: ein zerspaltenes Gefühl von der Gegenwart, eine zerstreute Benommenheit, eine innere Unordnung, die nahe an Unzufriedenheit ist – und fast zum erstenmal im Leben widerfährt mirs, daß ein Gefühl von mir selbst sich mir aufdrängt. Sind es die überschrittenen Vierzig, und ist auch in mir etwas schwerer und dumpfer geworden, so wie mein Körper, den ich in den Distrikten nie gespürt habe und nun – wenn das nicht eine angeflogene Hypochondrie ist – zu spüren anfange? Ich machte mir einen Begriff von den Deutschen, und noch als ich über Wesel der Grenze zufuhr, hatte ich ihn ganz rein in mir: es war nicht völlig der, den die Engländer vor 70 von uns hatten, nur mit den wenigen Büchern, die ich mit mir führte, dem »Werther« und »Wilhelm Meister«, flog mir mein Bild von den Deutschen auch nicht zusammen (was in diesen Romanen abgespiegelt war, erschien mir immer wie ein Spiegelbild, unendlich vertieft, verklärt, beruhigt), aber auch den unfreundlichen Begriff, den die Engländer unserer Zeit von uns in Umlauf setzen, hatte ich von mir abgewehrt: denn ein Volk verwandelt sich nicht bis zur Unkenntlichkeit, es regt sich nur wie im Schlaf und wirft sich herum, es stellt nur andere Seiten seines Wesens ins Licht. Und nun bin ich seit vier Monaten unter ihnen, habe in Düsseldorf mit ihren Minenleuten gehandelt und in Berlin mit ihren Bankleuten, habe Gerhart auf seinem Amt besucht, Charlie auf seinem Gut, habe um eines Gutachtens willen mich von einer Göttinger Kapazität an eine Gießener weisen lassen, mich in Bremen verhalten und in München umgetrieben, habe mit Ämtern und Behörden zu tun gehabt, Eure Eisen- und Maschinenleute, Eure kleinen und großen Herren gekostet – und weiß nicht, was ich sagen soll.
Was hatte ich mir denn vorgestellt? Was hatte ich zu finden erwartet? Und warum ist mir nun, als verliere ich den Boden unter den Füßen? Du kannst Dir denken, daß ich darüber hinaus bin, eine vereinzelte persönliche Erfahrung ins allgemeine zu ziehen. Auch ist mir niemand anders als loyal begegnet, ich habe meine javanesisch-deutschen Negoziationen besser abgewickelt, als ich mir hätte träumen lassen, und bin heute frei, und dazu zwar nicht reich, aber unabhängig, was mehr ist. Nein, es ist nichts in mir, was mich befremdet und quält und mich der Heimat nicht froh werden läßt, es ist kein Spleen, es ist – also, wie soll ich es nennen? Es ist mehr als eine Beobachtung, es ist ein Gefühl, eine Beimischung aller Gefühle, ein Existenzgefühl – Du siehst, ich quäle mich zurück in den Gebrauch einer Kunstsprache, die mir in zwanzig Jahren fremd genug geworden ist. Aber muß ich wirklich kompliziert werden unter den Komplizierten? Ich möchte in mir selber blühn, und dies Europa könnte mich mir selber wegstehlen. So will ich es Dir lieber weitschweifig oder ungeschickt sagen und ihren Kunstworten ausweichen. Du kennst mich genug, um zu wissen, daß ich bei meinem Leben nicht viel Zeit hatte, abstrakte oder theoretische Lebensweisheit anzusammeln. Eher eine gewisse praktische Erfahrung, aus den Gesichtern von Menschen oder aus dem, was sie nicht sagen, etwas abzunehmen, oder eine kleine Kette von unauffälligen Details hinreichend zu dechiffrieren, um allenfalls den Gang der Dinge bei einem Geschäftsabschluß oder einer Krise im Verhalten anderer zu mir oder untereinander irgendwie vorauszusehen. Von Theoretischem aber, wie gesagt, habe ich fast nichts in mir, so gut wie nichts. Immerhin ein oder zwei oder drei Sätze, Aphorismen, oder wie man es nennen wollte; es gibt Verbindungen von Wörtern, die man nicht vergißt; wer vergißt das Vaterunser? The whole man must move at once: Da hast Du eine von meinen großen Wahrheiten. Ich scherze nicht, das ist eine große Wahrheit, ein tiefsinniges Aphorisma, eine ganze Lebensweisheit, wenn es auch nur wenige Worte sind, die nicht viel gleichsehen. Und es war ein großer Mensch, der sie mir überliefert hat. Er war mein Bettnachbar im Spital von Montevideo, und es war einer von denen, die weit gekommen wären. Viel von dem Stoff war in ihm, woraus die englische Rasse ihre Warren Hastings und Cecil Rhodes macht. Aber er starb mit fünfundzwanzig, nicht damals in dem Bett neben mir, sondern ein Jahr darauf, an einer Rezidive. Er hatte den Spruch von seinem Vater, der ein Landgeistlicher in Schottland war und hart und bös gewesen sein muß, aber ein tiefer Kopf. Es ist ein Spruch, um ihn auf seinen Fingernagel zu schreiben, und man vergißt ihn nicht mehr, wenn man ihn einmal gefaßt hat. Ich führe ihn nicht oft im Mund, aber er ist irgendwo in mir immer präsent. Es ist mit solchen Wahrheiten – ich glaube nicht, daß es viele von solcher Kraft und Einfachheit gibt – wie mit dem Organ, das wir im inneren Ohr haben, den Knöchelchen oder kleinen beweglichen Kugeln: sie sagen uns, ob wir im Gleichgewicht sind oder nicht. The whole man must move at once – wenn ich unter Amerikanern und dann später unter den südlichen Leuten in der Banda oriental, unter den Spaniern und Gauchos, und zuletzt unter Chinesen und Malaien, wenn mir da ein guter Zug vor die Augen trat, was ich einen guten Zug nenne, ein Etwas in der Haltung, das mir Respekt abnötigt und mehr als Respekt, ich weiß nicht, wie ich dies sagen soll, es mag der große Zug sein, den sie manchmal in ihren Geschäften haben, in den U.S. meine ich, dieses fast wahnwitzig wilde und zugleich fast kühl besonnene »Hineingehen« für eine Sache, oder es mag ein gewisses patriarchalisches grand air sein, ein alter weißbärtiger Gaucho, wie er dasteht an der Tür seiner Estancia, so ganz er selbst, und wie er einen empfängt, und wie seine starken Teufel von Söhnen von den Pferden springen und ihm parieren, und es mag auch etwas viel Unscheinbareres sein, ein tierisches Hängen mit dem Blick am Zucken einer Angelschnur, ein Lauern mit ganzer Seele, wie nur Malaien lauern können, denn es kann ein großer Zug darin liegen, wie einer fischt, und ein größerer Zug, als Du Dir möchtest träumen lassen, darin, wie ein farbiger Bettelmönch Dir die irdene Bettelschale hinhält – wenn etwas der Art mir unterkam, so dachte ich: Zuhause! – – – Alles, was etwas Rechtes war, worin eine rechte Wahrhaftigkeit lag, eine rechte Menschlichkeit, auch im Kleinen und Kleinsten, das schien mir hinüber zu deuten. Nein, meine ungeschickte Sprache sagt Dir wieder nicht die Wahrheit meines Gefühls: es war nicht Hinüberdeuten, auch nicht Erinnert-Werden an drüben, es war kein Hüben und Drüben, überhaupt keine Zweiheit, die ich verspürte: es war eins ins andere. Indem die Dinge an meine Seele schlugen, so war mir, ich läse ein buntes Buch des Lebens, aber das Buch handelte immerfort von Deutschland. Ich denke, ich bin kein Träumer, und wenn ich – vielleicht als Bub – einer war, so habe ich jedenfalls in diesen achtzehn Jahren ganz einfach keine Zeit gehabt, einer zu sein. Auch sind es keine Träumereien, von denen ich Dir rede, nichts Ausgesponnenes, sondern etwas Blitzhaftes, das da war, während ich lebte, und oft in Momenten, wo mein Denken und alle meine Nerven vom Leben so angespannt waren wie möglich. Daß ich mich Dir mit einem Beispiel ausdrücke, das freilich beinahe albern ist: es ist wie mit dem Wassertrinken am Brunnen. Du weißt, ich war als Kind fast immerfort in Oberösterreich auf dem Land, nach meinem zehnten Jahr dann nur mehr die Sommer. Aber sooft ich in Kassel während der Schulwinter oder sonst, wohin ich mit meinen Eltern kam, einen Trunk frischen Wassers tat – nicht wie man gleichgiltig bei der Mahlzeit trinkt, sondern wenn man erhitzt ist und vertrocknet und sich nach dem Wasser sehnt – so oft war ich auch, jedesmal für eines Blitzes Dauer, in meinem Oberösterreich, in Gebhartsstetten, an dem alten Laufbrunnen. Nicht: ich dachte daran –
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