Die geleerte Urne ist schnell wieder in der Erde verschwunden. Was die beiden Grabräuber am längsten auf Trab hält, sind das hochpräzise Wiederherrichten der Gestecke und das Nachbearbeiten an den Seiten. Sie nehmen sich Zeit, denn niemand kann jetzt einen Skandal gebrauchen, nicht der Freundeskreis und erst recht nicht Steffens Familie. Danach brechen sie schleunigst auf.
»Weißt du schon, was mal auf deinem Grabstein stehen soll?«, fragt Frigga auf dem Rückweg eine ihrer berüchtigten Emo-Fragen.
Thomas: »Ja, denke schon. Mein vollständiger Name, das Geburtsdatum und das Sterbedatum.«
Frigga: »Hammer.«
Thomas: »Wart mal ab! Geburtsjahr 1984. Todesjahr 2984. Das soll auf meinem Grabstein stehen.«
Frigga: »Ironiefreier Hammer!«
Thomas: »Und auf deinem?«
Frigga: »Verrat’ ich dir, wenn du mir versprichst, dich drum zu kümmern, falls ich in Schottland oder woanders vorzeitig den Löffel abgebe.«
Thomas: »Versprochen.«
Frigga: »Darauf soll stehen: ›They Called Her One Eye‹. Geburtsjahr 1984. Todesjahr ... wann auch immer. 2011 wär’ cool, dann wär’ ich Mitglied im Club Twenty-Seven.«
Thomas: »Wie Kurt Cobain?«
Frigga: »Kurt Cobain, Janis Joplin, Jim Morrison, Jimi Hendrix. Ich hätte gute Gesellschaft.«
Thomas: »Spielst du auch Musik?«
Frigga: »Nein, Thomas, aber ich hab’ ja noch vier Jahre. Übermorgen fang’ ich mit Dudelsack an. Außerdem sing’ ich manchmal vor mich hin.«
Thomas: »Und wenn die alle einfach nur tot sind? Da bleib’ ich lieber bei 2984.«
Frigga: »Was soll’s! Live Fast, Love Hard, Die Young!«
Nach einem prüfenden Blick über die Mauer verlassen sie den Parkfriedhof. Als sie ins diesseitige Reich zurückkehren, bleibt der Mond ihr einziger Zeuge. Sie fühlen sich, als ob sie eine finstere Passage durchschritten und nun eine veränderte Welt betreten hätten. Die Luft riecht hier frischer. In ihr tänzeln Möglichkeiten, die nur darauf warten, gelebt zu werden. Jede von ihnen kann zur neuen Realität werden. Frigga, Thomas und Jana sind frei darin, ihre Wirklichkeiten zu wählen, nur Steffen hat keine reellen Optionen mehr.
Was bei all der Freiheit noch im Verborgenen liegt: Insgeheim hat Frigga nicht vor, jemals in ihre alte Welt zurückzugehen. Ihr Schlusssatz auf dem Friedhof war nicht nur eine Floskel. Am liebsten würde sie nicht einmal von Schottland wiederkehren. In Steffens Begleitung ist sie bereit, alle Optionen aufs Spiel zu setzen.
»U-U-U-A-A-A«, dringt es aus einem dunklen Schlund, vergleichbar mit dem Zombie-Stöhnen aus Friggas Horrorklassiker. Thomas muss so stark gähnen, dass seine Brille verrutscht. Wie befürchtet, hatte er den Rest der Nacht kaum geschlafen. Vormittags konnte er erst recht kein Auge schließen, einerseits wegen der Angst, die Abfahrt zu verpassen, andererseits wegen des Gerumpels seiner Eltern. Auf dem Bahnhofsvorplatz justiert er nun die Brille, während er auf seine Freunde wartet. Den DDR-Wanderschrank hat er neben sich abgestellt. Dank der Metallkonstruktion steht dieser selbst mit außen angebundenem Zelt stabil. Oberhalb hat Thomas noch Platz für Janas Beigaben gelassen, ansonsten ist der Rucksack voll. Die Traglast beträgt mehr als zwanzig Kilo, was bedeutet, dass Thomas rund hundert Kilo wiegen müsste, um im empfohlenen Verhältnis zum Packgewicht zu stehen. Davon ist der »Spargel« weit entfernt.
Als Erste schreitet ihm Frigga in schwarzer Allwetterjacke und blauer Jeans entgegen. Sie kommt aus dem Englischen Garten, dessen Baumlandschaft gegenüber vom Bahnhof endet. Auf dem Rücken trägt sie ein ähnliches Gepäckmonster wie Thomas, wenn auch moderner. Ihre Schultern leiden schon jetzt.
»Hab’ noch schnell die Krankschreibung in den Briefkasten geworfen«, schnauft sie Thomas zu.
Thomas: »Sehr gut! Ich hab’ einen Schottenrock.«
Frigga: »Echt?«
Thomas: »Von Helga. Zieh’ ich aber erst in Schottland an.«
Frigga: »Geil! Kann’s kaum erwarten.«
Thomas: »Weißt du, wann Jana kommt? Nicht, dass sie’s vergessen hat.«
Frigga: »Ich würde sagen: Jetzt!«
In diesem Moment biegt Christines Auto auf den Vorplatz ab, mit Christine am Steuer, Jana daneben und allerlei Zeugs auf den Rücksitzen. Der Wagen hält neben Thomas und Frigga.
»Latha math!«, jauchzt Christine zur Begrüßung. »Das heißt ›Guten Tag‹ auf Schottisch-Gälisch. ›Hello‹ tut’s aber auch.«
Jana: »Mum!«
Frigga: »How are you?«
Christine: »Fine, thanks. So ist es richtig, immer mit Fragen zum Wohlbefinden und etwas Smalltalk einsteigen. Das mögen die Briten.«
Frigga: »Darin bin ich Meisterin.«
Christine: »Great! Dann verteilen wir mal die bestellte Ware.«
Jana schnallt ihr Gepäck von der Rückbank, den kleinsten und einzigen einigermaßen korrekt gepackten Rucksack. Beinahe mitleidvoll überreicht sie die Schlafsäcke und Isomatten an ihre Freunde. Das Doppelzelt teilt sie auf: Frigga erhält das Gestänge, sie selbst nimmt das Innen- und Außenzelt sowie die Heringe.
Zu viert gehen sie ans Gleis. Da sich Christine noch nicht abwimmeln lässt, muss Jana durch die Blume sprechen: »Wart ihr gestern Nacht schön brav in euren Betten und habt Schlaf vorgetankt?«
Frigga und Thomas sehen sich zerknirscht an.
Thomas: »Innerhalb des Multiversums ist das in mindestens einem Universum der Fall gewesen.«
Jana: »Hoffentlich in unserem.«
Frigga: »Selbstverständlich in unserem ... Multiversum.«
Jana: »Ich fass’ es nicht!«
Christine: »Na, was ist denn das für ein Auftakt! Jana, hast du vor Aufregung schlecht geschlafen?«
Frigga: »Genau, Jana, zeig mal ein bisschen britische Höflichkeit!«
Jana: »Eure Sache!«
Die Südthüringenbahn kommt mit moderater Verspätung. Christine lässt es sich nicht nehmen, allen ein Küsschen zu geben und ein veraltetes »Godspeed!« für eine gute Reise zu wünschen. Von einem Vierersitz winken sie ihr zu, als die Bahn auch schon losrollt. So fahren sie davon, drei Abenteurer, die es in die Höhenlande zieht. Drei und ein Rest, um korrekt zu sein.
Das Abteil ist nahezu leer. Jana starrt Frigga an, die ihr am Fenster gegenübersitzt. Es handelt sich um den typischen Ich-kann-es-nicht-fassen-dass-du-die-Urne-unseres-Freundes-ausgegraben-hast-Blick. Momentan hat Jana das Gefühl, im falschen Film oder Universum zu sein.
»Gehst du noch zur Psychologin?«, fragt sie mit vorwurfsvollem Unterton.
Frigga: »Ja, wobei ich weniger von ›noch‹ sprechen würde, eher von ›wieder‹. Letztes Jahr gab es einen ... Vorfall, seitdem geh’ ich wieder hin.«
Jana: »Ich frag’ besser nicht.«
Frigga: »Besser nicht.«
Jana: »Kann sie dir helfen?«
Frigga: »Jein, würde ich sagen, meistens nur für die Dauer bis zum nächsten Termin. Das Schlimme daran ist, dass sie wirklich nett zu mir ist, was sie zu meiner mentalen Tankstelle macht.«
Jana: »Dieses Ungeheuer, wie kann sie nur!«
Frigga: »So geht halt alles weiter wie gehabt, ohne echte Veränderung. Ich weiß nicht, ob das der richtige Weg ist. Meine Kopfhaut schuppt auch wieder wie Hölle, seht ihr?« Sie rubbelt durch ihr Haar, woraufhin leise der Schnee auf den Boden der Südthüringenbahn rieselt.
Jana: »Nicht zu übersehen. Du brauchst eine Kur.«
Frigga: »Betrachten wir doch die nächsten Tage einfach als solche.«
Jana: »Gerne. Langfristig solltest du vielleicht endlich Meiningen verlassen, außer, das Staatsarchiv bietet dir den besten Job der Welt.« Der Satz zielt in eine offene Wunde, aber Jana ist gerade nicht auf Kuschelkurs.
Frigga: »Wenn du das daran bemisst, wie viel mir an Ruhe, Zurückgezogenheit und Zeit für andere Dinge bleibt, dann ist der Job nicht schlecht. Auf Dauer ertrag’ ich das aber nicht.«
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