Er setzte sich vor seinen Laptop und scannte die Videos, welche die Kamera mit Bewegungsmelder in der Tiefgarage aufgezeichnet hatte. Im fraglichen Zeitraum ab 14:00 Uhr bis jetzt sah er einige bekannte Gesichter von Nachbarn, die er nur vom Sehen kannte, kommen und gehen und nur eine Handvoll Personen waren unbekannt. Auf zwei junge Kerle mit Hoody und schlecht erkennbaren Gesichtszügen folgte ein eng umschlungenes Pärchen, aber beide Gesichter waren abgewandt und nicht zu erkennen. Ein paar Teenager trabten an der Kamera vorbei, die mit einem Fußball unterwegs waren, und dann kam ein Jogginganzug-Träger mit Kapuze, der zu einem schlecht auszumachenden jungen Mann mit dunklem Teint und ein paar dunklen Locken gehörte. Dann entstand eine längere Pause, bis eine junge Frau mit einem Kinderwagen durch das Bild rollte. Darauf folgte ein Anzugträger mit Krawatte, der Figur nach ein Bodybuilder mit Kinnbart und einem Tattoo am Hals. Zum Schluss sah er noch einen Jogginganzug-Träger mit Kapuze und bis zur Nase hochgezogenem Kragen, der wieder umdrehte, weil er etwas in seinem Auto vergessen hatte. Er konnte niemanden identifizieren, sicherte die Datei und ging in die Küche, um ein Glas Wasser zu trinken. Der Typ mit den Tätowierungen passte zu seiner Vorstellung eines Auftragsmörders, aber da er ihn nicht kannte, nützte ihm die Erkenntnis wenig.
Das Loch, das sich jetzt vor ihm auftat, es hätte schwärzer nicht sein können. Alles, was er so mühsam vorbereitet hatte, war mit einem Schlag wie weggewischt.
Dumpf vor sich hinbrütend saß er eine Stunde lang auf der Couch und versuchte den Zorn, der in ihm hochkochte, zu unterdrücken. Um 20:30 Uhr hatte er sich zu einem Entschluss durchgerungen.
Zuerst müsste die Leiche verschwinden, um die Auftraggeber des Auftragsmordes zu irritieren, und danach würde er eine Vermisstenmeldung an die Polizei abgeben und sich mit Emina endgültig absetzen. Danach würde er weitersehen, wieweit eine Zusammenarbeit mit den Ermittlern noch zweckmäßig und sinnvoll war. Der Prozess war erstmal geplatzt, und er und Emina waren als Zeugen eine Fehlanzeige. Er würde die neuen Identitäten dennoch benutzen, aber anders als vom Programm vorhergeplant.
Er rief mit heiserer Stimme seinen Vater an, den er getreu seinem Auftrag aus dem Zeugenschutz bisher vollkommen aus der Sache herausgehalten hatte, und fragte ihn, ob er Alina würdig aber ohne Aufsehen und am besten klammheimlich begraben könnte. Er sagte weder, was passiert war, noch gab er Einzelheiten preis, nur so viel, dass er seine Frau verschwinden lassen und ihren Tod verheimlichen wollte.
Was für eine Frage an den eigenen Vater, noch dazu wenn es um die Ehefrau ging, die er nur so kurz lieben gelernt hatte, und wegen der sein Leben jetzt kopfstand. Er war ziemlich sicher, dass er das Zeugenschutzprogramm für seine Tochter und sich selbst angesichts der Umstände vergessen könnte. Sie waren, was ihre Sicherheit anbelangte, ab jetzt auf sich allein gestellt. Immerhin hatten sie alles, was zum Aufbau einer neuen Identität notwendig war.
Es war unglaublich, und so hatte er ihn noch nie erlebt, wie einfühlsam sein Vater mit dem Thema umging. Der junge Mann hatte in seiner Bemühung, den Tod seiner Frau zu vertuschen, seine Mutter komplett außer Acht gelassen. Dass sie heute nicht zu Hause war, wusste er vorher nicht, aber es half ihm, seine geplante Aktion mit seinem Vater ohne große Aufregung durchzuziehen.
Und obwohl sein Vater vermutlich ahnte, worum es ging, fragte er nicht groß nach, und so wie es sein erster Gedanke war, hielt auch sein Vater den Ruheforst im südlichen Odenwald für den bestmöglichen Begräbnisort. Er musste es einfach riskieren, sie noch heute nach Erbach ins Beerdigungsinstitut seines Vaters zu bringen, wenn er den Zug morgen früh erreichen wollte.
Seine Tochter schlief immer noch tief und fest. Er trug zuerst seine auch im Tod noch so wunderschöne junge Frau in die Tiefgarage, setzte sie auf den Beifahrersitz und schnallte sie fest. Dann holte er die Kleine, die nicht wach wurde, als er sie auf dem Rücksitz zum Weiterschlafen hinlegte.
Fünfzig Minuten später fuhr er bei seinem Vater in den Hof, und gemeinsam brachten sie die Tote in den Vorbereitungsraum, legten Sie in einen Sarg, den sein Vater bereits für eine Feuerbestattung vorbereitet hatte. Morgen würde er sie, ausgestattet mit einem Totenschein seines Hausarztes, verbrennen lassen. Beim Begräbnis könnte er natürlich nicht dabei sein, aber klammheimlicher ging es einfach nicht.
Kurz nach Mitternacht, wieder zurück in Wiesbaden, begann er wahllos Klamotten zusammenzusuchen, seinen Laptop, seine Fotoausrüstung, aber auf jeden Fall nichts, was ihn sonst noch in der neu gewählten Wirklichkeit an die Vergangenheit erinnern könnte. Er stopfte alles in einen großen Koffer und bestellte das Taxi für 04:45 Uhr. Nach zwei Stunden Schlaf stand er mit einer schlaftrunkenen Fünfjährigen im Arm am Straßenrand, um auf das Taxi zu warten.
Im Taxi begann sie zu weinen, weil ihre Mama nicht da war, und er ihr keinen Trost spenden konnte und keine Erklärung, warum sie ohne Mama fortlaufen mussten.
Er schluckte schwer, denn die Fragen würden nicht aufhören und er wollte und konnte seiner kleinen Tochter nicht die Wahrheit erzählen.
Nicht jetzt und vermutlich noch lange nicht.
Im Auto schickte er eine offizielle SMS an die Notrufnummer der Polizei, wobei er sich als Personenschützer der Kronzeugin auswies, um einen Überfall und die Vergewaltigung seiner Frau zu melden, offensichtlich eine Racheaktion der Mafia an der Kronzeugin.
Er fügte ein Foto seiner Frau auf dem zerwühlten Bett bei, so wie er sie schwerverletzt nach seiner Rückkehr vorgefunden hätte. Der Vollständigkeit halber beschrieb er das vermutete Fluchtfahrzeug des Täters mit dem Kennzeichen des Odenwaldkreises und gab an, dass er die Heckscheibe zerschossen hatte. Ob er den Fahrer getroffen hatte, konnte er nicht sagen. Der Wagen hatte geschleudert, aber seine Fahrt fortgesetzt.
Er bat die Kollegen abschließend, alle verfügbaren DNA Spuren auf dem zerwühlten Laken zu sichern und mit dem Register in der Kriminaldatei zu vergleichen.
Als Letztes fügte er an, er wäre auf dem Weg in eine Privatklinik, um seine Frau unter voller Geheimhaltung ihres Aufenthaltsortes behandeln und hoffentlich retten zu lassen.
Er wollte für die Organisation gezielt falsche Spuren hinterlassen, und den Tod seiner Frau ebenso verheimlichen wie seinen künftigen Wohnort, der von ihm sorgfältig geplant und deutlich vom Zeugenschutzprogramm abwich.
Er sah eine schwere Zeit auf sich zukommen, und er sollte Recht behalten.
Im Taxi zum Hauptbahnhof passte der Song von Sia
‚Never Give Up‘ wie eine Faust aufs Auge:
I've battled demons that won't let me sleep Called to the sea but she abandoned me
But I won't never give up, no, never give up, no, no No, I won't never give up, no, never give up, no, no
And I won't let you get me down I'll keep gettin' up when I hit the ground Oh, never give up, no, never give up no, no, oh
Am Bahnhof kaufte er zwei erste Klasse Tickets nach Genf und erwischte den ICE 991 über Mannheim und Basel nach Genf um 05:26 Uhr gerade noch, denn der war diesmal ausnahmsweise pünktlich.
Er war sicher, mit diesem Schritt die Vergangenheit und seine Verfolger solange abschütteln zu können, bis die Angelegenheit aus den Schlagzeilen verschwunden wäre. Und er mit seiner Tochter ein Leben führen könnte, das frei war von ständiger Bedrohung, wo er sich nicht ständig umsehen und Rücksicht auf irgendwelche Ehrenkodices nehmen müsste.
Ab sofort hatte die Sicherheit seiner Tochter vor ihren Verfolgern oberste Priorität. Er schwor sich, alles zu tun, dass sie künftig auf sich allein aufpassen konnte. Sie sollte als Frau und wegen ihrer afghanischen Gene nicht ständig gezwungen sein, die zweite Geige zu spielen. In der Schweiz hatten die Frauen auch erst seit den 90er Jahren volles Wahlrecht und in den Köpfen der Menschen seiner Heimatgemeinde im Odenwald war das Meinungsbild nur geringfügig anders. Eine spätere Rückkehr in seine Heimat nach einem Jahrzehnt im Untergrund, um seine Verfolger abzuschütteln, wollte er a priori jedenfalls nicht ausschließen.
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