Sie war so bedrückt, wie er sie lange nicht gesehen hatte, und er fühlte sehr wohl, dass sie ihm irgendetwas verheimlichte. Etwas, womit sie versuchte, alleine klar zu kommen. Und er wollte nicht zu sehr in sie dringen in dieser Zeit so kurz vor der neuen Identität und Zukunft. Es musste sich um etwas tief in ihrem Inneren verborgenes und weit zurückliegendes handeln, vielleicht sogar aus ihrer Jugendzeit, von der er so gut wie gar nichts wusste. Andererseits hatte sie zu niemandem Kontakt, sie verließ kaum mehr die Wohnung und wenn sie telefoniert hätte, wüsste er das.
Und hier irrte der Personenschützer.
Von der Befürchtung, dass ihr patriarchalischer, afghanischer Vater auch hinter ihr her war, um die Schande zu tilgen, die sie über die Familie gebracht hatte, erzählte sie ihrem Ehemann nichts. Dass der junge Mann, den sie beim Staatsanwalt getroffen hatte, ihr Bruder war, erzählte sie ihm auch nicht. Sie erklärte das Treffen damit, dass der Staatsanwalt einen Dolmetscher für ein unsittliches Angebot an sie engagiert hatte, das sie aber abgelehnt hatte. Sie redete sich ein, dass sie ihn damit nicht beunruhigen wollte.
Um sie zu schonen, hatte er deshalb auch nur ihre fünfjährige Tochter auf den Behördengang mitgenommen, um die Dokumente persönlich zu übernehmen. Der gesamte Prozess auf dem Amt hatte dann, wegen eines unvorhergesehenen Staus auf der Friedberger Landstraße sowie der strengen Geheimhaltungsanforderungen deutlich länger gedauert als geplant.
Es war schon so gegen 19:30 Uhr, als er den Minivan zurück in die Tiefgarage der Wiesbadener Wohnanlage steuerte.
Er hatte mit seiner Frau besprochen, dass sie unmittelbar nach seiner Rückkehr ihr Gepäck ins Fahrzeug laden würden, um direkt loszufahren. Er wollte kein Risiko eingehen. Mit neuem Namen, neuen Papieren und einem Konto mit einem Grundstock, das sie in dieses neue Leben starten ließ. All die Tage zuvor hatte er versucht, sie aufzuheitern, was nicht so recht gelingen wollte. Wenn sie schwermütig war, wollte sie in Ruhe gelassen werden. Aber das war so schwer.
Als Erstes fiel ihm der dunkle Van am Eingang der Tiefgarage auf, den er hier noch nie gesehen hatte, und der ein Kennzeichen des Odenwaldkreises trug. Sein Misstrauen war geweckt, und er schwankte einen Moment, was er mit seiner auf dem Rücksitz eingekuschelten Tochter tun sollte.
Sie war auf der Rückbank eingeschlafen, und so ließ er sie wie üblich im Auto, wenn er nach Hause kam, um als Erstes zu prüfen, ob der Weg in die Wohnung sicher wäre. Schon beim Betreten des Apartments beschlich ihn ein ungutes Gefühl. Alles war dunkel und niemand reagierte auf sein, „hallo Schatz, wir sind wieder zurück”, als er sich in Richtung Schlafzimmer bewegte, in der Annahme, dass seine Frau sich hingelegt hatte. Das Zimmer war ebenfalls dunkel. Er fand sie im Schlafzimmer im Bett seltsam ausgestreckt unter der Decke und in völlig ungewohnter Weise auf seiner Bettseite liegend vor. Ihr Gesicht war ihm abgewandt und sie blickte auf ihre Bettseite.
Er schüttelte sie zärtlich, aber sie reagierte immer noch nicht und fühlte sich kalt und steif an. Er knipste die Nachttischlampe an und konnte keinen Puls fühlen. Dafür sah er ein Einmal-Injektionsbesteck auf dem Nachttisch, und als er die Decke zurückschlug, sah er den abgebundenen Arm und die Einstichstelle in der Armbeuge.
Sie war tot und in der Wohnung war es totenstill.
Er betrachtete sie lange und eine unsagbare Trauer ergriff ihn. Ihr wunderschönes Gesicht war entstellt von dem starr geöffneten Mund, ihren schreckhaft geweiteten Augen und die Pupillen groß und schwarz starrten durch seinen Blick hindurch ins Leere. Als er versuchte, den Kopf zu sich drehen, merkte er, dass die Totenstarre schon eingesetzt hatte.
Es dauerte eine Weile bis er bemerkte, dass ihre Halskette abgerissen war und der Anhänger fehlte. Aus den Kratzspuren am Hals schloss er, dass ihr das russische Kreuz mit Gewalt entrissen worden war. Beim genaueren Hinsehen sah er minimal ausgeprägte Druckspuren eines Daumenpaares an ihrem Hals. Der Mörder musste den Anhänger mitgenommen haben, denn dass es sich um keinen Selbstmord handelte, war ihm als Ex-Ermittler der Polizei sofort klar.
Die Totenstarre hatte bis auf die äußeren Extremitäten fast vollständig eingesetzt, was bei der herrschenden Raumtemperatur auf einen frühesten Todeszeitpunkt von etwa 15:00 Uhr schließen ließ. Der Täter musste unmittelbar nach seinem Verlassen der Wohnung erschienen sein. Vermutlich hatte der sogar gewartet, bis er ging, weil er wusste, was er vorhatte. Und wenn er wegen des Unwohlseins seiner Frau nicht seine Tochter ins Büro der Staatsanwaltschaft zur Dokumentenübergabe mitgenommen hätte, dann wäre sie jetzt auch tot.
Es tat ihm so weh, dass er seine Frau untersuchen musste, wo er ihr am liebsten nur die Augen geschlossen hätte, um zu trauern. Er fühlte den Schmerz über den Verlust fast körperlich und nicht nur das. Die Angst vor dem langen Arm der Mafia kam dazu. Diese Angst war verbunden mit dem Drang seine Tochter zu retten und vor einer permanenten Bedrohung zu fliehen, die nicht enden wollte. Der Zwiespalt, sich entscheiden zu müssen, zwischen der sofortigen Flucht und der Notwendigkeit kühl zu bleiben und die Situation zu analysieren, zerriss ihn fast. Als Ex-Polizist war er es gewohnt, Tatorte zu untersuchen, und sein Schlafzimmer war ein Tatort, da gab es keine Zweifel. Er erstarrte, als er die Decke vollständig zurückschlug und die Vergewaltigungsspuren sah. Er zwang sich dazu, mehrere Fotos von seiner toten Frau auf dem Bett zu schießen und die Tat zu dokumentieren.
Der Hinweis mit dem fehlenden Anhänger und die offensichtliche Vergewaltigung war ein zu eindeutiges Zeichen eines Auftragsmörders der Mafia. Von jemandem, dessen Ehre so tief verletzt war, dass er einen Mordauftrag der schlimmsten Art befahl. Dabei wurden absichtlich keine Spuren verwischt, um einen Rachemord an einer Verräterin zu demonstrieren.
Der Auftrag war eindeutig, um seiner Frau den Status einer ‚Wory‘ abzuerkennen, den sie sowieso abgelegt hatte. Und der Mörder war noch nicht fertig, warum hätte er sonst das Familien-Foto vom Nachttisch mitgehen lassen. Das Familienfoto, das sein Töchterchen auf dem Schoß der Mutter und ihn dahinter stehend zeigte, und das eingerahmt am Nachttisch stand, war verschwunden.
Er musste ausschließen, dass der Täter noch in der Wohnung war, und durchsuchte sie sorgfältig. Die Glock entsichert, schlich er von Zimmer zu Zimmer.
Fehlanzeige. Es fanden sich keinerlei Spuren eines Kampfes oder der Anwesenheit eines Fremden.
Dann fiel ihm siedend heiß der Van mit den abgedunkelten Scheiben und dem Kfz-Kennzeichen des Odenwaldkreises ein, der an der Ausfahrt der Tiefgarage parkte, und den er hier noch nie gesehen hatte.
Verstört lief er in die Garage, um nach seiner Tochter zu schauen. Der Van stand noch immer an der Ausfahrt, und er meinte auf der Fahrerseite einen Schatten zu sehen. Die Glock mit Schalldämpfer im Anschlag schlich er von hinten an den Van und versuchte, außerhalb des Sichtwinkels der Rückspiegel zu bleiben.
Er war nur noch wenige Meter vom Heck des Wagens entfernt, als der Motor aufheulte, und der Van mit quietschenden Reifen und ohne die Scheinwerfer einzuschalten, die Ausfahrt hoch raste. Ohne groß zu überlegen, schoss er eine Serie durch die Heckscheibe, die zersplitterte, aber die Schüsse brachten den Wagen nicht zum Stehen. Der schwere Wagen schlingerte leicht und verschwand um die Ecke.
Er speicherte das Kennzeichen ab und lief zu seinem Minivan, in dem die fest schlafende Tochter lag. Er nahm sie vorsichtig aus dem Auto, brachte sie direkt ins Kinderzimmer und machte ihr etwas zu essen. Als er das Zimmer verließ, war sie schon eingeschlafen. Er war hellwach und in einem Zustand der Hypersensibilität.
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