Der Oberstaatsanwalt kapierte, dass seine Hoffnungen zu hoch gegriffen waren. Es war sein Fehler, dies zu erwarten. Karl Miltner war enttäuscht und beendete das Gespräch. Danach zögerte er keine Sekunde, bevor er eine zweite SMS losschickte.
Von Rechts wegen handelte es sich bei dem, was er vorhatte, um eine lupenreine Erpressung, die er jedoch als Deal bezeichnen würde mit jemandem, der ihm noch einen Gefallen aus einem früheren Strafprozess schuldig war. Dieser Jemand war ein hochrangiges Bandenmitglied derselben ehrenwerten ‘Gesellschaft’, welches vor längerer Zeit von einem Opfer wegen Vergewaltigung angezeigt wurde. Als das Opfer einige Tage nach der Anzeige durch einen merkwürdigen Haushaltsunfall zu Tode kam, hatte der damalige Staatsanwalt Miltner, auf Druck der ‚Gesellschaft‘, das Verfahren gegen den Verdächtigen wegen Mangels an Beweisen und Selbstmord des Opfers eingestellt. An diesen Jemand leitete Karl Miltner in diesem Moment ebenfalls die Anschrift der Zeugin weiter, allerdings mit einer kleinen Korrektur. Er datierte das geplante Fluchtdatum der Familie um einen Tag vor und bat ihn, pünktlich zu sein.
In der SMS an seinen Killer fügte er neben den Angaben zum Aufenthaltsort die schlichte Bitte hinzu, die Kronzeugin zuverlässig auszuschalten, damit sie nie mehr gegen ihn und die ‚Gesellschaft‘ aussagen könnte. Seiner Einschätzung nach hatte der Empfänger der SMS ebenfalls ein natürliches Interesse daran, der Zeugin den Mund zu stopfen. Er wusste, dass er sie indirekt für den Tod seines Sohnes verantwortlich machte, der durch die Kugeln der Polizei bei der gewaltsamen Beendigung des Drogentransportes starb.
Als Back-up blieb ihm immer noch die Chance, dass der Spezialist, den der Boss schicken würde, die Zeugin zuverlässig entführen würde. Das wäre dann nach seiner Einschätzung nicht die sichere Variante, die er sich wünschte, aber immerhin wäre die junge Frau dann für absehbare Zeit keine Belastungszeugin mehr sowohl gegen die ‚Gesellschaft‘ wie gegen ihn.
Er war sicher das Richtige getan zu haben, um wieder angstfrei leben zu können.
Und er dachte auch an eine Zukunft, in welcher dieser Jemand im künftigen Machtkampf um die Führung der ‚Gesellschaft‘ bessere Karten haben würde als der aktuelle Anführer. Dann säße er endlich am längeren Hebel.
Kapitel 3
Symbole haben für die Mitglieder der ‚Bratwa‘immer eine tiefere Bedeutung. So kennzeichnet ein umrahmter Diamant je nach Verzierung einen Offiziersgrad. Die Bratwa ist straff hierarchisch gegliedert, wobei dem Boss oder Anführer, ein Unterboss oder stellvertretende Anführer zur Seite steht. Sie führen die "Kapitäne", und die wiederum die „Soldaten“. Alle „Mitglieder“ der ‚Bratwa‘ bilden die ‘Gesellschaft’und sie wählen ihren Anführer.
Landgericht Frankfurt, Mittwoch 14.10.2009, 13:30 Uhr
Der Verteidiger im großen Drogenprozess hatte mittlerweile den Gerichtssaal verlassen und saß nachdenklich in seinem dunklen Mercedes der S-Klasse auf dem Parkplatz vor dem Landgericht.
Der Boss wusste seit kurzem, dass die Kronzeugin eine Tochter geboren hatte. Deren Vater vermochte ebenso gut er wie dieser verdammte ‚Ehebrecher‘ sein, der sich so schamlos an seinem Eigentum vergriffen hatte. Ab jetzt dürstete er weniger seine Geliebte, deren Vergehen er immer noch für eine Notlüge und entschuldbar hielt, dafür aber umso strenger den Ehemann mit seiner Rache überziehen.
Er rief den Boss an, um ihm den versprochenen Bericht zu erstatten und seine Befehle entgegen zu nehmen.
Der Boss informierte ihn knapp und prägnant, dass er die Sache jetzt selbst in die Hand nehmen würde. Er hatte verstanden, dass in der kurzen Übergangsphase zwischen dem 24/7–Personenschutz-Programm, und dem Übergang in das eigentliche Kronzeugenprogramm mit neuen Identitäten, einem neuen Umfeld und Wohnort, die Zeugin relativ ungeschützt war. Diese Zeitspanne wollte der Boss jetzt nutzen, um die Kronzeugin zwar spät, aber noch immer rechtzeitig und endgültig aus dem Verfahren zu entfernen, um damit der Staatsanwaltschaft die Basis für die Verurteilung zu entziehen. Jedem war klar, dass ohne ihre Aussage, die Anklage auf extrem wackligen Beinen stand.
Er forderte diesmal mit Nachdruck, einschließlich der Androhung von Konsequenzen an seine Führungsmannschaft vor Ort, die aktuellen Koordinaten ihres Wohnortes an. Er ließ verlauten, dass er die Kronzeugin und deren Tochter jetzt und sofort, das hieß noch vor dem Urteil, zu entführen und nach Russland zu bringen gedachte.
Dann würde er sich mit seinen Rachefantasien um den Personenschützer kümmern, der ihm das alles eingebrockt hatte, und ihn fertig machen.
Damit wäre ein Schlussstrich unter dieses unerfreuliche Verfahren gezogen, und die einträglichen Geschäfte und vor allem der künftige Umbau der Organisation in einen quasi-legalen Wirtschaftsbereich konnten ungestört weiter vorangetrieben werden.
Der Verteidiger glaubte an dieser Stelle dem Boss dieses zahnlose Vorgehen einer Verräterin gegenüber nicht. Er sah die Todesstrafe für sie als Konsequenz der brutalen Regeln der ‚Gesellschaft‘ schon als verhängt an. Der Boss würde die Zeugin zur Strafe so lange benutzen, bis er ihrer endgültig überdrüssig war. Nach den ungeschriebenen Regeln dieser ‚Gesellschaft‘ gehörte sie ihm bis an ihr Lebensende, und ihr Leben lag in seiner Macht.
Außer ihr verzeihen, das gaben die Regeln der Bratwa nicht her. Und das Verhalten ihres Anführers beobachteten die Mitglieder dieses Unterweltsyndikats sehr sorgfältig.
Dem Verteidiger war in diesem Moment nur wichtig, dass dieser Entführungsauftrag nicht bei ihm landete, denn er wollte nicht noch mehr Minuspunkte beim Boss sammeln. Disziplin war das A und O in der ‚Gesellschaft‘. Und das war dem Boss wichtiger als die Höhe des Profits, wenn man von Ausnahmen absah.
Danach drehte sich das Telefongespräch hauptsächlich um seine Rolle als Syndikus, konkret um den Abschluss der Markteinführung von Opioiden in der rezeptfreien Anwendung sowie der Gründung einer Stiftung zur Verwaltung von Immobilien und der Vermögenssicherung für die Unternehmensnachfolge. Als Wirtschaftsanwalt hatte der Syndikus gemeinsam mit dem Statthalter die notwendigen legalen Strukturen aufgebaut.
Es hatte harter Überzeugungsarbeit bedurft, um das risikoreiche und gewalttätige Drogengeschäft in ein quasi-legales Geschäftsmodell umzubauen. Allerdings war die ‘Gesellschaft’ immer noch dabei, die Vermarktung, um weitere Kundensegmente zu erweitern, um sich auf dem entwickelnden europäischen Opioid Markt eine Monopolstellung zu sichern. Mithilfe der Opioide für den rezeptpflichtigen und den rezeptfreien Schmerzmittelsektor sollte Europa massiv überflutet werden.
Der Boss, dessen Erfahrung aus den Anfängen des Unterweltsyndikats stammten, war „Mafia“ Old School und weder vertraut mit pharmazeutischen Absatzmärkten noch mit Online Marketing, dafür sicherte er das bestehende Drogennetz mit einem perfekt arbeitenden Sicherheitsdienst ab, der alles, was sich dem Netzwerk in den Weg stellte, brutal und gezielt beseitigte.
Die größte Sorge des Bosses war deshalb nicht, dass seine Geliebte, die er sowieso schon abgeschrieben hatte, ein paar der führenden Köpfe der lokalen Szene für ein paar Jährchen hinter Gitter bringen würde. Das würden die auf einer Arschbacke absitzen. Hingegen musste der Betrieb seines Geschäftsmodells leise und unauffällig weiterlaufen. Er akzeptierte kein zusätzliches Risiko mehr.
Der Mann hinter dem Lenkrad seines S-Klasse-Wagens atmete tief durch. Er war erleichtert, dass der Versuch die Kronzeugin zu beseitigen, der in all den Jahren des Prozesses gegen die Frankfurter Zelle des russischen Drogenkartells kläglich gescheitert war, kurz vor Prozessende wieder Fahrt aufnahm.
Читать дальше