Er akzeptiert, dass der Boss damit drohenden Schaden von der ‘Gesellschaft’ abwenden wollte. Diese Organisation, in die er hineingeboren worden war, hatte ihn zur Ausbildung und Studium nach Deutschland geschickt und langsam aufgebaut. Er war dankbar und loyal über seine Karriere und die erreichte Position in der ‚Bratwa‘. Künftig würde er auch in der Stiftung eine wichtige Rolle spielen, die er sich mühsam erkämpft hatte.
Er war der Kontaktmann zum Maulwurf und hatte genug Druck auf ihren Mann in der Justiz ausgeübt, damit er diesmal die richtigen Koordinaten rechtzeitig herausrückte. Nach dem Empfang einer kurzen SMS, die er an den Boss weiterleiten musste, würde der ‚Wolf‘ seinen Job abschließen. Keine Zeugin, kein Urteil.
Das war das Ziel.
Auf dem Weg zurück ins Büro kündigte der kurze Piepton seines Handys den Eingang der erwarteten SMS des Maulwurfs an, die er direkt weiterleitete. Minuten später erhielt er die Bestätigungsantwort vom Boss. Aktion ‚Rückführung‘ war angelaufen.
Kapitel 4
Morde im Namen der "Ehre" sind weit verbreitet in Afghanistan. Die eigenen Verwandten werfen vergewaltigten Mädchen und Frauen vor, Schande über die Familie gebracht zu haben - so werden sie von Opfern zu Täterinnen gebrandmarkt. Dabei gilt auch einvernehmlicher Geschlechtsverkehr der unverheirateten Frau mit einem Mann als Vergewaltigung.
Wiesbaden, Donnerstag 15.10.2009, 19:00 Uhr
Die eindrucksvollen braunen Augen und der Dreitagebart des sportlichen jungen Mannes, ließen die Schmetterlinge im Bauch der Kronzeugenbeauftragten flattern wie jedes Mal, wenn sie ihn traf. Auch dieses Mal fühlte sie, wie ihre Knie weich wurden. Am liebsten wäre sie selbst mit ihm ins Kronzeugenprogramm geflüchtet, aber der Zug war abgefahren. Sie blieb cool und ließ sich, so gut sie es vermochte, nichts anmerken und wickelte die Dokumentenübergabe für sein neues Leben so kühl wie möglich ab.
Der junge Mann, dem eine gewisse Leichtigkeit im Leben, insbesondere dem weiblichen Geschlecht gegenüber, nicht fremd war, empfing sehr wohl die Signale der niedlichen Kronzeugenbeauftragten, die sich jetzt schon jahrelang um die Zeugin und ihre Tochter gekümmert hatte. Er war ehrlich genug sich einzugestehen, dass ein Versprechen trotzdem ein Versprechen war und dass Treue mindestens genauso wichtig war wie sexuelle Freiheit, und weil er dasselbe von seiner Partnerin erwartete, zwang er sich, aufkeimende Triebe jeder Art zu unterdrücken. Außerdem rüttelte ihn sein Gewissen seit seinem letzten Bruch eines Treueversprechens gegenüber seiner Sandkastenliebe ständig wach, sich ordentlich zu verhalten. Obwohl diese letzte gebrochene Versprechen gar kein richtiges Versprechen war. Nach seinem Empfinden war es eine mehr als angenehme Gewohnheit.
Als frischgebackener Ehemann kümmerte er sich liebevoll und vorrangig um die Sicherheit seiner kleinen Familie. Mit einem entschuldigenden Blick grinste er die Versuchung weg und nahm genauso cool, wie sie sich gab, die Dokumente und das Briefing entgegen. Er drückte sie zum Abschied ohne den erwarteten Kuss auf die Wange. Er würde sie in diesem Leben nicht mehr wiedersehen.
Wegen seiner schlaksigen und manchmal unbeholfenen Art wurde er leicht unterschätzt. Aber er konnte, wenn er wollte, seine Ziele sehr hartnäckig verfolgen. Als geborener Optimist gab es für ihn nichts Unmögliches. Das wiederum hatte ihm die ganze Mühsal ihrer ständigen Flucht zu ertragen geholfen, denn er sah immer das Licht am Ende des Tunnels. Hier und heute sah er das strahlende Licht des Tunnelendes vor sich und den Anfang einer lebenswerten Zukunft mit einer schönen und intelligenten Frau an seiner Seite, die dennoch seine Hilfe brauchte, um ihre Vergangenheit abzuschütteln.
Er gab sich keiner Illusion hin, dass dies ein Prozess war, der Jahre dauern konnte, aber Geduld war nicht nur eine leere Worthülse für ihn. Er lebte danach.
Der Übergabetermin war wie eine geheime Staatsaktion abgelaufen, um nur ja keine Spur zu hinterlassen. Er hatte auch darauf bestanden, den ursprünglichen Termin um zwei Wochen vorzuziehen, damit nicht durch eine Leckstelle, die er seit längerem bei der Staatsanwaltschaft vermutete, das Programm scheitern könnte. Es gab zu viele Vorfälle in der Vergangenheit, seine Frau aus dem Verfahren zu entfernen, die glücklicherweise alle gescheitert waren.
Das kleine Mädchen mit den samtschwarzen Locken und den großen, wasserblauen Augen, das seiner Mutter bis auf die Augenfarbe so sehr ähnelte, saß die ganze Zeit, während er beschäftigt war, auf der Besucher Couch und spielte mit einer Puppe. Er verließ das Haus mit dem Kind auf dem Arm direkt über die Tiefgarage und lief, den Kopf gesenkt, zu seinem, auf dem Besucherparkplatz abgestellten Minivan, packte die Kleine in den Kindersitz und klemmte sich hinter das Lenkrad.
Bevor er auf die A3 in Richtung Wiesbaden einbog, sah er im Rückspiegel, dass die Kleine immer noch mit der Puppe beschäftigt war, atmete tief durch und schloss die Augen.
Die letzten Monate waren alles andere als stressfrei, wenn er an die Vielzahl der Hürden dachte, die es bis zur Entgegennahme der Papiere vor fünfzehn Minuten zu überwinden galt. Obwohl alles akribisch dazu vorbereitet war, fühlte er sich immer noch wie ein Fallschirmspringer, der vor der offenen Flugzeugluke stand und vor einem nächtlichen Absprung über unbekanntem Terrain ins Dunkle starrte.
Nein, widersprach er sich selbst, er wollte in eine sonnendurchflutete Zukunft springen, und die dunklen Schatten hinter sich lassen.
Er hatte unter dem Zeugenschutzprogramm, welches das hessische Landeskriminalamt für ihn organisiert hatte, gemeinsam mit den beiden eine neue Identität mit erfundenem Lebenslauf erhalten.
Für ihren künftigen Lebensmittelpunkt empfahl sich Hamburg. Einen Arbeitsvertrag als Angestellter eines bekannten Haftpflichtversicherers hatte er unterschrieben. Für seine Frau, die mit einem Informatikstudium glänzte, welches sie an einer russischen Hochschule erworben hatte, wäre es ein leichtes, an ihrem neuen Wohnort einen Job zu finden. Er strahlte beim Gedanken an seine Frau, die sich so unvorhersehbar nach der gewaltsamen Festnahme und Verletzung in seine Fürsorge und mehr begeben hatte.
Sie hatte spontan seine Liebe erwidert, obwohl es für beide echt schwierig war, sich wegen ihrer gegenseitigen Sprachdefizite zu unterhalten.
Eine Liebe, die keine Worte brauchte, war bei beiden so rasch aufgeblüht, dass er selbst nicht verstand, was da ablief. Er löste seine Verlobung mit seiner ewigen Sandkastenfreundin und wollte sich nicht eingestehen, dass er ziemlich unfair ihr gegenüber war.
Kurze Zeit, nachdem die Zeugin aus dem Krankenhaus entlassen worden war, in dem sie mit ihrer schweren Schussverletzung behandelt worden war, heirateten die beiden. Bei der Geburt ihrer Tochter durfte er dabei sein, und seine neue Verantwortung für seine kleine Familie verschaffte ihm ein starkes Glücksgefühl. Die Tochter war ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten. Von da an durfte er sich um zwei schöne Frauen kümmern, die ab sofort sein Leben bestimmen würden, wie er es scherzend nannte.
Aber es sollte alles anders kommen.
Als er kurz nach 14:00 Uhr die sichere Wohnung in Wiesbaden verlassen hatte, wollte er für maximal zwei Stunden wegbleiben, um mit Emina seine Dokumente vom Amt abzuholen. Ursprünglich sollten sie zu dritt die Unterlagen abholen, aber seiner Frau ging es die letzten Tage nicht so gut.
Die komplette Lebensumstellung, ein diffuses Heimweh nach ihrem fernen Zuhause und die Gewissheit, ihre Familie in Afghanistan nie mehr zu sehen, hatten ihr offensichtlich schwerer zugesetzt, als er dachte. Sie hatte während des ganzen Prozesses nur sehr zurückhaltend mit der Staatsanwaltschaft kooperiert und keine Details über ihre Familie und die eigentliche Führungsmannschaft der ‚Bratwa‘ kundgetan. All das hatte sie nur getan, um zu überleben.
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