"Ja, doch eines frage ich mich schon: Wofür brauche ich denn eine Kokosnuss?"
"Ach, das weißt du nicht? Die wirfst du deinen Feinden an den Kopf, wenn dein Schwert mal nicht weiterhilft."
Julian sah den Druiden ungläubig ab.
"Das war doch nur ein Scherz. Zum essen brauchst du die. Du wirst mir noch dankbar sein, dass ich sie dir eingepackt habe. Diese Früchte halten ewig und deshalb hebst du sie am besten bis zum Schluss auf. Ich wünsche dir alles Gute, Eadfjeddr. Viel Erfolg bei deinem Abenteuer und ich kann es kaum erwarten, bis du wieder da bist und mir nicht nur meine Pilze sondern auch eine Menge interessanter Geschichten mitbringst."
Sie standen nun ganz unten vor dem Eingang zum Turm.
"Vielen Dank, Alfokohel. Ich werde mich beeilen und so schnell wie möglich wieder hier sein. Wie viele Pilze soll ich noch mal sammeln?"
"Fünf Stück benötige ich. Wenn du mehr mitnehmen willst, bleibt das dir überlassen. Ach, eines hätte ich fast vergessen: Die Nebelwiese ist sehr gefährlich und dort kann zuweilen schon ein seltsames Wesen auftauchen. Am besten hältst du dich von allem fern, was nach Geist aussieht."
"Was, davon erzählt Ihr mir erst jetzt? Ist das etwa ein Urgeist?"
"Unsinn, Urgeister haben Besseres zu tun, als den ganzen Tag auf der Nebelwiese herumzustreunen. Los jetzt, geh schon."
"Wenn das mal gut geht.", sagte Julian und machte sich dann auf den Weg. Er marschierte links des Turms in die Ferne und gelangte bald auf einen sehr offenen Hang, auf dem keinerlei Bäume wuchsen, sondern nur kleine Pflanzen und Büsche. Von hier aus konnte man sehr weit in die Ferne sehen. Julian erkannte sogar die goldene Stadt. Dieser Umstand sowie die aus dieser Richtung leuchtende Sonne verrieten Julian, dass er nach Westen blickte. Langsam bahnte sich die Nacht an und die Sonne genoss noch ihre verbleibende Zeit für den heutigen Tag. Julian fühlte sich wohl und genoss einige Zeit den herrlichen Ausblick. Dann sah er sich rechts, also an der nördlichen Seite des Hangs, nach der steilen Stelle um. Schließlich fand er sie. Erstmal ging es gleich zwei Meter in die Tiefe auf eine schmale Stufe, die in den Hang gehauen war. Dasselbe setzte sich darunter etliche Male fort. Julian sprang vorsichtig hinab. Das war gar nicht so einfach, denn der Rucksack, den er nun am Rücken trug, war so vollgestopft mit verschiedensten Lebensmitteln, dass er sich wie eine Tonne an Gewicht anfühlte. Mit dieser steilen Stelle hatte der Druide der Gestirne Julian keine Freude gemacht. "Die steilste Stelle des Schattenberges.", sagte Julian wütend vor sich hin. "Dass die Stelle einfach nur gerade abfällt, hat er nicht erwähnt." Auf diese Worte sprang Julian auf die nächste Stufe hinab. Da geschah es: Er rutschte aus, fiel zu Boden und das Gewicht des Rucksacks drückte ihn weiter in die Tiefe, bis er von der Kante fiel und hinab zur nächsten Stufe. Doch auch diese verfehlte er und schlug nur auf der übernächsten Kante auf. Bei der dritten Kante konnte er sich gerade noch festhalten, bevor er weiter gestürzt wäre. Als er dann vorsichtig nach unten sah, bemerkte er, dass unter ihm schon das Ende dieses steilen Stücks auf ihn wartete. Also ließ er sich auf eine sanfte Wiese inmitten eines Waldes fallen und setzte sich zunächst an einen Baum, um sich von dem Sturz zu erholen. Er kramte im Rucksack nach etwas zu Trinken und wurde schnell fündig. In der Hand hielt Julian eines der vielen Glasgefäße, in denen sich undefinierbare Flüssigkeiten befanden. Vorsichtig öffnete Julian den Verschluss und roch dann kurz daran. Das Gebräu brannte in der Nase ob seiner schier unerträglichen Süße. Nun war sich Julian nicht sicher, ob er das wirklich kosten wollte. Schließlich nahm er behutsam einen winzigen Schluck. Dann glaubte er, er müsse kotzen. Erdbeersaft. Und zwei Kilo Zucker. So schmeckte es zumindest. Julian verschloss die Flasche wieder und entgegen dem Drang, sie vom Berg zu werfen, packte er sie wieder in den Rucksack.
"Das ist mehr eine Waffe als ein Getränk.", sagte er zu sich selbst und musste kurz lachen. Anschließend fuhr er mit dem Abstieg fort und erspähte sehr schnell die Serpentinen. Lange Zeit folgte er dem breiten, erdigen Pfad, auf dem nichts wuchs. Der Weg schlängelte sich über die verschiedensten Ausläufer und Hänge des Schattenberges, großteils umgeben von einem grün strahlenden, gesunden Wald und ansonsten an der Seite von Hängen entlang verlaufend. Nach zwei Stunden, in denen Julian diese Serpentinen entlanggewandert war, erreichte er schließlich die Ebene am Fuß des Berges. Nun konnte er seinen Freunden erzählen, dass er den Schattenberg hinauf und wieder hinabgestiegen war. Er hoffte, dass Otto und Lisa nicht ebenfalls gezwungenermaßen den Berg bestiegen hatten. Dann wäre seine Verkündung nichts Besonderes mehr gewesen. Sofort darauf verwarf er den Gedanken und hoffte, dass die beiden einfach wohlauf waren und er sie bald finden würde. Während er hinabgestiegen war, hatte Julian einen interessanten Einfall gehabt. Die Urgeister waren ja vom schrecklichsten aller Wesen erschaffen worden, also konnte ein Urgeist ihm auch erzählen, was es mit diesem Wesen auf sich hatte. Sie fürchteten bestimmt nicht seine Rückkehr und würden Julian alles über das Wesen erzählen. Jedoch wusste er nur den Namen eines einzigen Urgeistes. Den hatte er sich immerhin sehr mühsam gemerkt, doch mithilfe des Druiden der Gestirne war es ihm letztendlich doch gelungen. Crypthmetoras, Geist des Wissens. Julian spielte mit dem Gedanken, diesen Geist zu rufen. Dann dachte er aber daran, wie der freundlichste aller Urgeister die mächtige, blutrünstige Nixe erschaffen hatte. war es in irgendeiner Situation eine gute Idee, so ein altes und mächtiges Wesen zu rufen? Wahrscheinlich nicht. Zu diesem Schluss kam auch Julian, während die Sonne sich komplett verabschiedet hatte und die Nacht eingebrochen war. Im Norden des Schattenberges war nicht wirklich viel zu sehen außer einer endlosen Ebene. Auf dieser Ebene befand sich aber etwas, das durchaus ins Auge stach. Wie bei Stonehenge, dem legendären Monument aus Varbitien, waren hier verschiedenste Steinblöcke an einem Ort versammelt. Doch ihnen fehlte die perfekte Zusammensetzung von Stonehenge, was bedeutete, dass sie einfach nur wahllos und willkürlich herumlagen, wobei manche zufällig über andere ragten oder einander stützten. Diese seltsamen Gebilde konnten mit ein wenig Fantasie bestimmt so einiges darstellen. Für Julian stellten sie nur einen Ort dar, der ganz nett anzusehen war, doch mehr nicht. Also ging er weiter.
"Halt, wo willst du hin?", fragte plötzlich eine Stimme, die durch die Luft hallte. Julian blickte um sich. Doch nirgendwo war jemand zu sehen. Hatte er aus Versehen ein uraltes Wesen aufgeschreckt? Was, wenn es sich dabei um einen Urgeist handelte? Im Moment machten diese Wesen Julian am meisten Angst. Kurze Zeit später schlug nördlich von Julian ein dunkelblauer Blitz in den Boden ein und plötzlich stand dort eine Gestalt. Eine Gestalt von so unglaublicher Erscheinung, dass Julian sich seine Augen rieb. Wer war das und was trug sie da? Vor Julian stand eine junge Frau, ungefähr in seinem Alter. Ihre brünetten Haare hatte sie mithilfe eines Bandes zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trug eine schwarze Lederjacke mit Stacheln an den Handgelenken, Schultern und Ellenbogen und karoförmigen, dunkelblauen Knöpfen an der Vorderseite. Die Jacke hatte sie so weit offen, dass man darunter ein Stück eines weißen Unterhemdes sehen konnte und darüber hinaus einen großen Ausschnitt. Den Kragen der Jacke hatte sie aufgestellt und an den Händen trug sie verschiedenfarbige Handschuhe. An der rechten Hand dunkelviolett, an der linken hellgrün. Ebenso besaßen ihre Augen verschiedene Farben, rechts grün und links braun. Sie grinste mit offenem Mund und ließ so ihre vergoldeten Schneidezähne sichtbar werden. Als ob all das noch nicht genug war, trug sie noch einen Rock mit rot-blau kariertem Muster und darunter noch zwei dicke, gelbe Strümpfe, die ihr bis zur Mitte der Oberschenkel reichten. Abgerundet wurde das alles noch von violetten Schuhen. Diese seltsame Gestalt mit Kleidung, welche Julian sehr ungewöhnlich schien, stand einsam vor ihm und grinste ihn unverschämt an. Da er nicht wusste, was er tun sollte, begrüßte er sie einfach.
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