Die Urgeister. Sie waren das erste und mächtigste Volk der Existenz. Sofern man dreizehn Individuen als Volk ansehen wollte. Trotz ihrer geringen Zahl überstieg ihre summierte Macht jene aller anderen Völker, die je geschaffen wurden, noch um ein Vielfaches. Selbst die Götter, von denen so viele ebenfalls weitaus mächtiger als alle Vertreter anderer Völker waren, wirkten im Vergleich zu den Urgeistern wie lächerliche Witzfiguren. Wenn man dies der Göttermutter Ir gesagt hätte, wäre sie zornig geworden, hätte aber nichts Anderes tun können, als diese Wahrheit zu akzeptieren, denn das war es gewiss. Die Urgeister, deren Vater das schrecklichste Wesen der Existenz war, wurden noch vor dem Tod geschaffen. Jeder von ihnen stellte einen essentiellen Aspekt der Existenz dar. Sie alle besaßen Aufgaben, die sie auf unterschiedliche Weise behandelten. Manche nahmen ihre Pflicht sehr ernst und kümmerten sich um das, was von ihnen verwaltet wurde. Andere kümmerten sich gar nicht um ihre Aufgaben und taten einfach, was ihnen gerade in den Sinn kam. Doch egal, welchem Urgeist man auch begegnen mochte, es war stets weise, diese Wesen mit gebührendem Respekt zu behandeln und ihnen gegenüber so freundlich und hilfsbereit wie nur möglich zu sein. Denn sie mussten sich nicht einmal bewegen und konnten dennoch gewaltige Kräfte entfesseln. Wenn es eine Art von Wesen gab, vor der man sich stets vorsehen sollte, waren es ohne Zweifel die Urgeister. Sogar die dümmsten und ungebildetsten Menschen würden grundsätzlich verstehen, was es mit diesen Urgeistern auf sich hatte, wenn man es ihnen erklärte. Sie würden nie auf die wahnwitzige Idee kommen, auch nur das Wort an diese überlegenen Kreaturen zu richten. Denn ein Urgeist war wie ein Echo. Man konnte stets mit einer Antwort rechnen.
Julian, dem über die Urgeister berichtet worden war, ignorierte alles, was er über sie wusste und wollte nun trotz allem eines dieser erhabenen Wesen anrufen. Er kannte nur Crypthmetoras, den Geist des Wissens, doch beschloss er, einfach alle Urgeister zu rufen und abzuwarten, welcher sich denn wohl zeigen würde. Da er nicht wusste, wie man das am besten tat, rief er einfach laut in den Wald hinaus:"Urgeister! Ich rufe Euch! Zeigt Euch, Urgeister! Ich benötige Eure Hilfe!"
Der Regen wurde stärker und durchnässte Julians Kleidung. Plötzlich fegte ein peitschender Wind durch den Wald und traf Julian so heftig, dass er beinahe im Matsch ausgerutscht wäre. Er konnte sich gerade noch aufrecht halten und beobachtete zugleich, wie sich die Bäume am Wegsaum im starken Wind bogen und aneinanderkrachten. Im nächsten Moment erloschen alle Laternen, soweit Julian sehen konnte, zugleich und die tiefste Schwärze, die er je wahrgenommen hatte, drückte von allen Seiten auf ihn ein. Völlig aufmerksam und abwartend blieb Julian auf der Stelle stehen und versuchte, irgendwo um sich etwas zu erkennen. Als er seinen Blick schweifen ließ, glaubte er, dass etwas an ihm vorübergehuscht war.
"Sicher kein Urgeist. Die können doch nicht so unscheinbar sein. Wenn ein Urgeist hier wäre könnte ich das schon spüren.", sagte Julian überzeugt zu sich selbst. Jedoch rechnete er nicht mit einer Antwort von außen.
"Sries eun Chestro, Eyulyian.", flüsterte eine fürchterliche Stimme direkt neben Julians Ohr. Er schreckte auf und sprang von der Quelle des Schalls weg. Durch diese rasche Aktion in völliger Dunkelheit hatte er allerdings den matschigen Boden vergessen und nun rutschte er aus, fiel in den Schlamm und rief dann außer Atem:"Wer...seid Ihr?"
"Cha,cha,cha. Niinkreth berfut. Nee verkcs tangeiir meia Chotra?"
Julian verstand kein Wort. Er wusste nur, dass er vermutlich doch einen Urgeist in seiner unmittelbaren Umgebung hatte. Das mächtige Wesen sprach nur in der alten Sprache, die Julian nicht beherrschte und so blieben ihm die Aussagen des Geistes ein Rätsel. Er wiederholte seine Frage von vorhin:"Wer seid Ihr, verdammt noch mal?"
"Tartaro. Srim ses Manifestra sel Berfuuusa."
Auf diese Worte hin leuchtete plötzlich eine einzelne Laterne auf. Jedoch war dies keine der Laternen, die am Wegesrand den Reisenden Erleuchtung boten. Diese Laterne hing direkt vor Julian in der Luft. Langsam erschlossen sich ihm alle Details der Gestalt, welche vor ihm aufragte. Das seltsame Wesen schwebte einen Meter über dem Boden und sah aus wie ein Gespenst aus Gruselgeschichten. Man konnte nur einen seltsamen, grauen Fetzen in der Luft hängen sehen, der eine Art Kapuzenrobe darstellte. Lange Ärmel und die Kapuze ließen keinen Blick auf die Gestalt innerhalb des Gewandes zu. Lediglich eine metallene Sichel ragte aus dem linken Ärmel und auf dieser hing die Laterne und schwankte minimal im Wind hin und her. An den Seiten der Ärmel erkannte Julian je drei identische, goldene Stickereien in Halbkreisform in denen sich drei verschiedene Edelsteine befanden. Rubin, Saphir und Smaragd, alle in Form eines Karos. Der Gewandfetzen besaß auch feine Linien in dunklerem Grau, welche wie eine Maserung beim Holz über den Stoff verliefen und ihm ein schönes Muster verliehen. Die gesamte Gestalt war umgeben von einem sehr dunklen, rötlichen Licht, welches nicht nur bedrohlich anmutete, sondern die Macht dieses Wesens noch zusätzlich verdeutlichte. Julian konnte kaum hinsehen, geschweige denn, sich aufrichten. Er zitterte am ganzen Körper. Endlich hatte er die Dummheit seiner Handlung erkannt. Wie konnte er nur glauben, ein Urgeist würde ihm helfen? Wie war er nur auf die hirnverbrannte Idee gekommen, tatsächlich einen Urgeist zu rufen? Wie konnte man nur so dumm sein? Doch all diese Fragen halfen Julian jetzt auch nicht mehr. Mühsam nahm er all seine verbliebene Kraft zusammen und versuchte, aufzustehen. Die schwebende Gespenstergestalt rührte sich nicht. Beobachtete sie ihn etwa und amüsierte sich auf seine Kosten? Noch immer wusste er nicht, was da eigentlich vor ihm schwebte und er war sich ziemlich sicher, dass er es auch nicht herausfinden würde. Dennoch versuchte er es noch einmal mit Reden:"Es tut mir Leid, oh großer Urgeist. Ich habe einen schrecklichen Fehler begangen. Ich dachte, es wäre klug, einen Urgeist um Hilfe zu bitten, doch nun ist mir klar geworden, dass ich solch erhabene Geschöpfe nicht mit meinen Problemen behelligen sollte. Bitte vergebt mir. Außerdem würde ich gerne wissen, wer Ihr seid, jedoch spreche ich die alte Sprache nicht. Könntet Ihr Euch, so es in Eurer unendlichen Güte möglich wäre, in der neuen Sprache vorstellen?"
Julian hatte sich nun wieder aufgerichtet und blickte in die dunkle Öffnung der Kapuze. Dort ragte nun ein winziges Stück Metall heraus, das stark an die Spitze einer weiteren Sichel erinnerte. Diese war ebenfalls mit dem dunkelroten Licht umrandet. Dennoch gab der Urgeist keine Regung von sich und schwebte einfach weiterhin in der Luft. Jeder Augenblick war für Julian unerträglich. Es konnte jeden Moment mit ihm zu Ende gehen. Der Urgeist brauchte sich wahrscheinlich nicht einmal bewegen und konnte Julian trotzdem töten. Nun würde er einen hohen Preis für seine Dummheit zahlen.
"Wie konnte ich nur so dumm sein?", dachte er.
"Berfuuusa srit niinkrethis. Niinkreita srit berfut. Sries berfut osto, Eyulyian. Pedrocolo Berfuuusa srit dollojustre osto. Iistued tangeiir neevis, konnrit dollojustre."
Noch immer dachte der Urgeist nicht einmal im Traum daran, mit Julian in der neuen Sprache zu kommunizieren. Stattdessen enthüllte die gespenstische Gestalt nun auch am rechten Arm eine metallene Sichel derselben Machart wie die anderen. Julian begriff nicht, was nun geschah und hoffte noch immer, der Urgeist würde sich ihm verständlich ausdrücken. Als dann aber die Sichel von einem Moment auf den nächsten eine ruckartige, horizontale Bewegung ausführte, fühlte Julian eine seltsame Wärme in der Gegend seines Bauches entstehen. Zugleich bahnte sich ein Gefühl an, als ob tausend Nadeln zugleich in seinen Körper stachen. Bevor er an sich hinab sehen konnte, zerfiel er in zwei Teile und wanderte langsam ins Delirium. Während er sich darauf vorbereitete, zu sterben, hörte er noch ein paar letzte Worte des Urgeistes, doch da er sie ohnehin nicht verstehen konnte, nahm er den genauen Wortlaut ebenfalls nicht mehr wahr. Was er aber verstand, waren ein paar sehr feindselig gesprochene Worte eines anderen Wesens.
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