"Das war doch nicht meine Schuld. Sie ist einfach aufgetaucht. Was hätte ich denn tun sollen?"
"Naja, jedenfalls ist es katastrophal ausgegangen. Euretwegen musste ein Unschuldiger sterben."
"Meinetwegen?", Julian stutzte. Er war überzeugt, dass Liams Tod nicht seine Schuld gewesen war. Wie hätte er auch verhindern sollen, dass Lilybeth ihn zu Tode prügelt? Sie war ihm weit überlegen. Doch Lehixili erklärte es ihm.
"Ihr hättet Lilybeth davon abhalten können, ihn zu töten. Es hätte eine Möglichkeit gegeben. Leider habt Ihr falsch gehandelt. In einem nicht existenten, aber theoretisch möglichen Zeitstrang würde Liam noch leben und dann müsste ich Euch auch nicht zusammenflicken, weil Ihr bei ihm im Dorf übernachtet hättet und nicht auf die irrsinnige Idee gekommen wärt, die Manifestation der Dummheit zu beschwören. Schon traurig, wie eine einfache Entscheidung so viel verändern kann."
"Aber was habe ich getan? Für was habe ich mich entschieden? Und wie könnt Ihr Euch anmaßen, mir einen alternativen Zeitstrang zu präsentieren? Woher wollt Ihr wissen, dass das wirklich passiert wäre?"
"Schön langsam finde ich keinen Gefallen mehr an einem Gespräch mit Euch, Julian. Ich bin wirklich sehr freundlich und zuvorkommend, doch wenn ich für meine Hilfe ständig angeschnauzt werde, habe auch ich einmal genug. Also mäßigt Euren unhöflichen Ton, sonst lasse ich Euch gleich unter Schmerzen zum Sterben zurück. Aber das wäre eine Verschwendung Eures Lebens, also beherrscht Euch um Euretwillen. Verstanden?"
Da blickte Julian erschrocken auf die Sternenhexe. Er war nur wegen ein paar Kleinigkeiten erzürnt, doch schien ihr der Ärger in seiner Stimme nicht entgangen zu sein. Julian erkannte, dass es ihm nicht zustand, jener Person gegenüber in irgendeiner Weise unfreundlich zu sein, die ihm gerade das Leben rettete. Also tat er das einzig Richtige.
"Bitte verzeiht mir, Lehixili. Ich habe wohl meine Höflichkeit und erst recht meine Dankbarkeit vergessen, weil alles gerade ziemlich chaotisch ist. Es tut mir Leid."
"In Ordnung, ich akzeptiere Eure Entschuldigung. Immerhin ist Euch jetzt klar geworden, welch unverschämtes Glück Ihr hattet, dass ich gerade zusah, als Ihr von der Manifestation der Dummheit zerteilt wurdet. Viele andere hatten nicht so viel Glück wie Ihr. Aber Ihr seid nun mal ein Kind des Schicksals und eines von der gesegneten Sorte, wie mir scheint. Ich verstehe, dass Ihr angesichts des Chaos nicht klar denken und Euch noch weniger angemessen verhalten könnt. Das können die wenigsten im Chaos. Denn so ist das Chaos nun mal. Es wirbelt alles herum und lässt ein Wirrwarr zurück, welches nur schwer zu durchblicken ist. Selbst für jene, die alles durchblicken."
"Darf ich nun noch einmal höflich fragen, woher Ihr wisst, wie eine alternative Zeitlinie ausgesehen hätte, die nie passiert ist?"
"Aber natürlich. Das liegt an meiner Sternenmagie. Die Sternenmagie lässt einen zuweilen schon extreme Sachen tun. Ich kann in eine niemals geschehene Zukunft sehen sowie noch viele andere Dinge. Das Zusammenfügen Eures Körpers hingegen gelingt nur mithilfe von Naturmagie, der ältesten und reinsten Form der Magie. Bestimmt langweile ich Euch mit diesen ganzen Fakten. Ich sollte sie vermutlich den Schreiberlingen erzählen, die alles in Büchern verewigen müssen. Die können mit diesem Wissen mehr anfangen."
"Nein, bitte redet weiter. Solange ich noch aus zwei Teilen bestehe, kann ich ja ohnehin nichts tun. Da ist es schön, zumindest mit Euch reden zu können. Und ich kann Euch ganz ehrlich sagen, dass ich mich mit bisher keinem anderen Menschen außer meinen besten Freunden so gut unterhalten konnte."
"Vielen Dank, Julian. Eure besten Freunde sind Otto und Lisa, nicht wahr? Ja, ich sehe sie vor mir." Die Sternenhexe seufzte.
"Was habt Ihr?"
"Ach, gar nichts. Es ist nur ein Jammer."
Da wurde Julian das Herz schwer.
"Es geht ihnen doch gut, oder?"
"Sollt Ihr nicht eine Aufgabe für Alfokohel erfüllen, um die Antwort auf diese Frage zu erhalten?"
"Bitte, Ihr müsst es mir sagen. Wenn etwas mit ihnen passiert ist, muss ich es sofort wissen."
"Ich kann nur so viel sagen, dass sie beide noch am Leben sind. Das muss Euch reichen."
"Ja, das reicht mir vollkommen.", gab Julian erleichtert von sich.
"Tatsächlich? Es reicht Euch, wenn sie leben? Was, wenn sie schrecklich verstümmelt und unter furchtbaren Qualen in irgendeinem Folterkeller gefesselt hängen und auf ihren Tod warten? Das ist Euch lieber, als dass sie in ihrem Tod Erlösung finden? Wenn dem so ist, seid Ihr nicht nur ein miserabler Freund, sondern ein kaltherziger Mensch."
"Nein, um Gottes Willen, so habe ich das nicht gemeint. Das ist doch nicht wirklich mit ihnen geschehen? Was mache ich hier, ich muss sofort weiter." Julian versuchte, sich aufzurichten. Doch er schaffte es nicht.
"Ruhig jetzt.", sagte Lehixili. "Die beiden sind in keinem Folterkeller und haben auch noch alle Gliedmaßen. Der Rest wird Euch erst von Alfokohel offenbart. Jetzt haltet gefälligst still. Je ruhiger Euer Körper ist, umso einfacher ist es für mich, ihn zusammenzuflicken."
"Verstanden, ich bleibe ganz ruhig."
"Hoffen wir, dass Ihr das schafft. Der Prozess wird nämlich noch eine ganze Weile dauern."
Nach einer gefühlten Ewigkeit - tatsächlich waren es nur drei Stunden - beendete die Sternenhexe ihre Operation und Julians Körper war wieder so, wie er vor der Begegnung mit dem Urgeist gewesen war. Abgesehen von der Narbe, die sich über seinen gesamten unteren Bauch streckte und auch am Rücken entlang verlief. Einmal rund um seinen Körper ging sie. Nun richtete er sich wieder auf, fühlte an die Narbe und erschauderte dann. Für einen Moment dachte er, er würde den Schmerz erneut fühlen, der damals das Zerfallen seines Körpers in zwei Teile begleitet hatte. Doch zum Glück lag diese schmerzhafte Erinnerung nun hinter ihm. Die Sternenhexe stand ihm nun auf Augenhöhe gegenüber. Sie war etwas kleiner als Julian, ungefähr so groß wie Lisa. Erst jetzt nahm Julian alle Details der Hexe richtig wahr. Sie besaß langes, seidenglattes, blondes Haar und ihre Augen leuchteten braun. Am Oberkörper trug sie eine Art zerzausten, filzigen Pullover, der bis zu ihren Handgelenken und ihrer Hüfte verlief. Der Pullover besaß denselben, dunklen Grauton wie auch der Kapuzenumhang der Manifestation der Dummheit. Allerdings schimmerte der Pullover an manchen Stellen in verschiedensten Farben. An den Beinen der Sternenhexe konnte Julian den unteren Teil eines hellblauen Kleids erkennen, welcher vorne in der Mitte ein wenig offen war und mit sich überkreuzenden Schnüren zusammengehalten wurde. Die Hexe ging barfuß und der Ringfinger ihrer rechten Hand wurde von einem wunderschönen silbernen Ring mit quadratischem Amethyst verziert. Als Julian den Ring erblickte konnte er nicht anders, als nachzufragen, was es damit auf sich hatte.
"Verzeiht, Lehixili, aber was ist das für ein wunderschöner Ring, den Ihr da tragt?"
"Oh, der ist Euch aufgefallen? Ihr seid wirklich aufmerksam, Julian. Das ist der Amethystring. Er war ein Geschenk an mich und besitzt die Macht, Tote wiederzubeleben. Ein wahrhaft mächtiger Ring, findet Ihr nicht auch?"
"Tote wiederbeleben? Das ist ja unglaublich. Sagt, dürfte ich Euch um die Macht dieses Rings bitten, sollte meinen Freunden doch etwas geschehen sein? Denn dann muss ich alles versuchen, um sie wieder aus dem Totenreich zurückzuholen."
"Tut mir Leid, Julian, aber so gerne ich Euch helfen würde, das ist leider nicht möglich. Der Effekt dieses Rings ist nur einmal in jeder Ära nutzbar und in unserer jetzigen Ära wurde er schon genutzt. Wie Ihr seht, kann ich also leider nichts für Euch tun."
Julian senkte enttäuscht den Kopf.
"Verstehe. Das ist natürlich sehr schade, aber danke, dass Ihr so aufrichtig mit mir seid. Dann werde ich wohl hoffen müssen, dass meine Freunde tatsächlich wohlauf sind oder ich muss warten, bis die nächste Ära beginnt. Zurzeit leben wir ja in der Ära der Menschen, soweit ich weiß, richtig?"
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