Die Möbel waren zum großen Teil heruntergekommen, Schranktüren hingen schief in ihren Angeln oder fehlten ganz, die Tapeten hingen in langen Fetzen von den Wänden und Kabel baumelten von der Decke. Und auf dem Tisch lag der nackte Körper einer Frau. Ihre Arme und Beine hingen herunter, ihr Haar war so lang, dass es bis zum Boden reichte. Ihr Körper wies mehrere Schnitte auf, dünne Schläuche steckten in ihrer Haut, die nach oben zur Decke verliefen und in Beuteln mit einer klaren Flüssigkeit endeten. Als hätte man die Leiche an mehrere Tropfe gehängt. Auf dem Boden verteilt standen Kanister, Fässer und Schüsseln. In einer davon entdeckte Rogue Gehirnmasse. Dieses gräulich wabblige Zeug hatte er schon gesehen und würde es immer wieder erkennen.
Rogue riss seinen Blick von dem, was er sah und schob sich weiter um das Haus herum. Durch das nächste Fenster konnte er ein Schlafzimmer sehen. Auf dem dreckigen Lumpen, der wohl mal eine Decke war, entdeckte er Daria. Ihre Hände und Füße waren gefesselt und sie starrte zur Decke. Einen Augenblick lang dachte er, sie wäre tot, aber dann hob sich ihr Brustkorb unter einem tiefen Atemzug und Rogue stöhnte erleichtert auf.
Daria rieb sich mit zitternden Fingern über die schmerzenden Handgelenke. Sie wusste nicht, was sie mehr zittern ließ: die eisige Kälte, die ihr in den Gliedern steckte oder das Entsetzen darüber, dass sie schon wieder in den grausigen Klauen dieses Irren festsaß. Sie wusste nicht einmal, ob sie es als Fortschritt betrachten konnte, dass er sie dieses Mal im Schlafzimmer des verwahrlosten Hauses festgebunden hatte, und nicht wie beim letzten Mal in der Küche, wo sie ihm dabei zusehen musste, wie er den Leichnam einer Frau ausnahm und präparierte. Haltbar machte für seine wahnsinnige Traumvorstellung von einer perfekten Bilderbuchfamilie.
Das Wort Bilderbuchfamilie bekam einen ganz üblen Nachgeschmack, wenn man bedachte, dass dieser Mann sich eine Familie aus Leichen zusammenbaute. Im Wohnzimmer saßen Kinder vor einer Spielkonsole, die Frau auf dem Tisch sollte ihre Tante sein, hatte den Ansprüchen des Wahnsinnigen aber nicht standgehalten und wurde deswegen zur Nachbarin degradiert, hatte er Daria in einem seiner ewig langen Monologe erklärt. Er baute sich eine Familie nach seinem kranken Idealbild. Wie viel hatte dieser Mann im Laufe seines Berufslebens gesehen, dass er sich dazu gezwungen fühlte, eine Familie zu bauen, in der es keine Gewalt gab, keine Lügen, keinen Betrug, keine Frustration?
Was für Ansprüche hatte dieser Mann? Was würde Daria tun müssen, um zumindest eine Chance auf Überleben zu haben? Daria schüttelte sich, wahrscheinlich wäre es besser, sie würde nicht leben und würde sich lieber von ihm ausstopfen lassen. Der Gedanke, sie müsste ihr Leben mit diesem Monster und seiner Leichenfamilie verbringen, erleichterte ihr die Vorstellung von einem schnellen Tod.
Daria zog an den rauen Seilen, mit denen sie an einem Ring in der Wand festgemacht war, und versuchte eine bequemere Position zu finden. Ihr Rücken schmerzte, mit dem sie gegen die raue, feuchte Wand lehnte, ihr Hintern tat weh vom Sitzen auf dem harten Boden, und auch sonst gab es kaum eine Stelle an ihrem Körper, die nicht geschunden war. Sei es durch Manuels Faustschläge oder dadurch, von dem Wahnsinnigen über den Waldboden gezerrt worden zu sein. Auch ihre Seele fühlte sich missbraucht an. Sie hatte diesem Mann vertraut und er hatte sie betäubt und hierher entführt. An einem fremden Ort aufzuwachen, gefesselt, umgeben von Tod und Grauen, war das Schlimmste, was sie je durchmachen musste. Aber noch war sie nicht tot, es konnte also noch viel schlimmer werden.
Am ersten Tag, nachdem der Polizist, der sie eigentlich hatte retten sollen, sie entführt hatte, hatte sie noch geweint und gefleht, aber sie hatte schnell begriffen, dass ihr das nicht half, denn der Wahnsinnige hatte sie ignoriert und ihr stattdessen von seinen Plänen erzählt: davon, wie sie dieses Haus gemeinsam in ein Zuhause verwandeln würden, wie sie noch mehr Kinder haben würden - mehr als die toten, die im Wohnzimmer saßen. Und welche Rolle sie zu spielen hatte. Er hätte ihr ja so viel mehr zu bieten als Manuel.
Sie starrte kraftlos an die Decke. Gestern noch hatte sie Hoffnung gehabt, als ihr die Flucht gelungen war, als der Polizist, der sie eigentlich in das Frauenhaus bringen sollte, sie für einen Augenblick allein in der Küche zurückgelassen hatte und sie sich mit Hilfe eines Skalpells, das vom Tisch gefallen war, befreien konnte. Heute, wo Moreno sie wieder in seinen Fängen hatte, fühlte sie sich leer, müde und hatte eindeutig aufgegeben. Sie versuchte nicht einmal mehr, sich zu befreien. Wie sollte sie hier auch wegkommen? Sie konnte kaum auftreten. Ein Teil von ihr hatte mit dem Leben längst abgeschlossen. Ja, sie war sich sogar sicher, dass der einzige Weg hier raus der war, sich als Belastung für den Wahnsinnigen zu erweisen, damit er sie recht bald von all dem hier befreite. Sollte er danach doch mit ihrem Körper machen, was er wollte.
Daria starrte auf einen feuchtgelben Fleck über ihrem Kopf und fühlte plötzlich eine so tiefe Ruhe in sich, dass sie für einen Augenblick sogar das Atmen vergaß. Erst ihre protestierenden Lungen zwangen sie zu einem tiefen Atemzug.
Die Frau war allein im Zimmer, als er sich davon überzeugt hatte, klopfte er gegen die dreckige Scheibe. Sie bewegte ihr Gesicht langsam zum Fenster und riss die Augen erschrocken auf, als sie ihn erkannte. Sie schüttelte so hastig den Kopf, dass Rogue befürchtete, sie würde sich jeden Moment etwas zerren. Offensichtlich wollte sie nicht, dass er zu ihr hereinkam.
Das musste sie schon ihm überlassen. Gebückt ging er weiter um das Haus herum, bis er ein eingeschlagenes Fenster fand, durch das er hineinklettern konnte. Das Wohnzimmer war ein noch schlimmerer Anblick als die Küche. Dieser Mann war wahnsinnig, ein Irrer. Rogue musste mit sich kämpfen, musste sich auf das konzentrieren, was er hier tun wollte, um nicht in eine Schockstarre zu verfallen.
Das Wohnzimmer sah aus wie jedes andere Wohnzimmer auch. Es hatte ein Sofa, einen Tisch, Schränke, ein paar Bilder an den Wänden. Alles dreckig und alt, verschlissen, aber ansonsten war es ein Wohnzimmer. Auf dem Sofa saß eine kleine Familie. Und diese Familie war es, die ihm die Übelkeit in den Magen trieb, denn sie starrten auf den zerbrochenen Bildschirm eines alten Fernsehers und waren tot. Tot – und doch wirkte diese Szene wie eine, die man in jeder Familie erwarten würde. Ein Mann - wahrscheinlich der Vater - hielt eine Flasche Bier in der Hand, trug ein Holzfällerhemd, eine alte Jogginghose und hatte seinen freien Arm um seinen Sohn gelegt. Sein Sohn hatte eine ausgestopfte Katze auf seinem Schoß liegen, seine Hände lagen auf ihrem Körper, als würde er die Katze streicheln. Und neben ihm saß die Tochter, ein blondes Mädchen von etwa zehn Jahren, mit aufgelösten Zöpfen und einer züchtigen Bluse und einem Rock, der bis zu ihren Knien reichte. In ihren Händen hielt sie ein Buch. Rogue würgte, unfähig den Blick von der Szenerie zu lösen. Er konnte nicht glauben, was er hier sah und fragte sich, wo er gelandet war. Wie er überhaupt hier gelandet war. Aber nach dem zu urteilen, was er vor Augen hatte, wusste er, er musste die Frau retten.
Er hatte zerfetzte Leichen in Kriegsgebieten gesehen, sterbende, schreiende Soldaten und Kinder. Er hatte in Glasgow Frauen gesehen, die von Menschenhändlern zu Sexsklavinnen gemacht wurden, hatte gesehen, wie dieselben Männer Kinder prostituiert hatten, aber dieser Anblick war noch einmal eine ganz andere Nummer.
»Reiß dich zusammen!«, befahl er sich und löste sich mit wackligen Beinen von der Familie. »Konzentrier dich.«
Rogue schlich aus dem Wohnzimmer, warf einen flüchtigen Blick in den Flur, bevor er dann weiter zum Schlafzimmer lief. Als er durch die Tür kam, begann Daria aufgeregt zu zappeln und den Kopf zu schütteln.
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