Ich hätte tatsächlich statt all der schönen Sachen viel lieber meine Mutti bei mir gehabt, aber davon wollte sie niemals was hören. Sie hatte immer neue Entschuldigungen dafür, nicht nach Hause kommen zu können. So ein hübsches Paket mit kleinen Überraschungen darin tut es doch schließlich auch. Oder nicht?
Selbstverständlich war da auch immer eine Karte oder ein kurzer Brief in den Päckchen, den mir Oma dann natürlich vorlas. Ich freute mich zunächst über diese kleinen Zwischengaben und ein Lebenszeichen von meiner Mutter. ‚Sie hat mich doch noch nicht ganz vergessen‘ dachte ich dann und freute mich. - Allerdings freute ich mich weniger über die „lieben“ bedauernden Worte, die sie mir dann immer am Schluss in diesen kurzen Karten und Briefen schrieb.
Ja so war das immer: Mit dem Eintreffen dieser Schlechtes-Gewissen-Gaben war leider auch ein sehr großes ABER verbunden. Es bedeutete, dass sie wieder einmal einen fest versprochenen Besuch absagte ... natürlich aus wichtigem Grund. – Nur milderte das meine Enttäuschung, Wut und Traurigkeit in keiner Weise. Dann liefen wieder die Tränen und Oma und Opa wischten sie fort und trösteten, so gut sie konnten.
Und all die schönen neuen Sachen, die sie mir schickte, blieben daher meistens kaum beachtet irgendwo in der Ecke liegen. Ich wollte sie gar nicht haben ... Ich wollte meine Mutti! Aber das interessierte sie schon damals nicht. Sie erwartete für ihre Geschenke mein Verständnis, meine Dankbarkeit und das fiel mir damals sehr schwer.
Und wieder einmal halfen mir meine Großeltern über meine Enttäuschung und Wut hinweg. Die hübschen neuen Sachen, die meine Mutter mir schickte, und die ich rundweg ablehnte, landeten meistens in Paketen, die meine Oma in die DDR schickte, wo einige ihrer Kinder mit ihren Familien lebten. Und deren Kinder freuten sich über die hübschen Sachen.
Wenn meine Mutter mich aber dann wirklich mal besuchte, kam sie freitags am Mittag an und fuhr sonntags am Nachmittag wieder weg.
Für mich war das jedes Mal gefühlsmäßig eine Achterbahnfahrt. An den Freitagen, an denen sie ankam, war ich oben, an den Sonntagen, wenn sie nachmittags wieder wegfuhr, war ich ganz unten.
Ich war an den Tagen, an denen sie kam, morgens schon nach dem Aufstehen so aufgeregt, dass ich kaum frühstücken konnte und auch sonst kaum zu bändigen war.
Und auch als ich etwas größer war und schon zur Schule ging, konnte ich mich an diesen Tagen nur schwer auf den Unterricht konzentrieren. Ich malte mir dann aus, wie sie nach der Schule draußen auf mich wartete um mich zu überraschen und mich abzuholen, und ich dann stolz jedem zeigen konnte, was für eine hübsche Mutti ich hatte, und dass sie sich doch um mich kümmerte. – Leider erfüllte sich dieser Wunsch nie.
Nach der Schule wartete ich dann voller Spannung vor dem Haus darauf, dass das Taxi, in dem meine Mutter saß, endlich die Straße herauf gefahren kam. Mit mir zusammen wartete fast immer Opa unten auf der Straße, machte einige seiner Späße, die ich so liebte und er brachte mich zum Lachen, um mich ein wenig abzulenken, denn meine Aufregung und Spannung bis Mutti kam, waren sehr groß.
War sie dann endlich da, war meine Freude grenzenlos und ich wollte den ganzen Tag nicht mehr von ihrer Seite weichen. Zuerst funktionierte das auch gut: Ich war ja klein und niedlich. Sie spielte mit mir, wir gingen zusammen mit meiner Oma spazieren oder fuhren mit dem Bus in die Stadt zum Einkaufen und Eis essen. Das waren richtig schöne Tage. Für eine kleine Weile war meine Welt wieder in Ordnung, und ich war glücklich. Mutti war da und das war das Allerwichtigste!
So hätte es weiter gehen können, doch leider blieb es nicht so…
Denn dann kamen die Sonntage, an denen es immer wieder hieß, Abschied zu nehmen, weil meine Mutter zurück in die Großstadt fuhr.
Und wenn es dann Zeit für sie war, sie Schuhe und Mantel anzog, wusste ich, gleich ist sie wieder weg und ich fing an zu weinen, klammerte mich an sie, so fest ich nur konnte, bettelte und schluchzte: „Bitte nimm mich doch mit Mutti, bitte nimm mich mit!“ Aber sie schüttelte nur den Kopf, seufzte und sagte: „Das geht nicht. Mutti muss doch arbeiten! Da habe ich gar keine Zeit, mich um dich zu kümmern, Kind. Ich komme doch bald wieder. Nun sei ein großes Mädchen, sei tapfer und hör auf so zu weinen. Weinen macht hässlich und du bekommst eine ganz schrumpelige Haut! Du möchtest doch später mal so hübsch werden wie die Mutti ... dann musst du auch aufhören zu weinen!“
Dann klingelte es an der Wohnungstür, das Taxi war da. Ich klammerte mich noch fester an meine Mutti, weinte bittere Tränen und sagte voller Verzweiflung: „Bitte nimm mich mit. Bitte! Ich bin doch auch ganz lieb!“ Aber sie schob mich nur ungeduldig von sich weg und sagte ziemlich ungehalten zu meiner Oma: „Jetzt halt doch mal das Kind fest, ich muss gehen, das Taxi wartet und die Uhr läuft!“
Dann drehte sie sich um, winkte mir zum Abschied noch einmal kurz zu, die Tür schloss sich hinter ihr, und weg war sie. Ich blieb zurück, sah auf die geschlossene Tür. Es tat so weh, dass sie mich wieder einmal nicht mitgenommen hatte. In diesen Momenten brach für mich jedes Mal aufs Neue meine kleine Welt zusammen, und mein Herz schien in eine Million Teile zu zerspringen. Ich verstand das einfach nicht, fühlte mich irgendwie schuldig. Wieso wollte sie mich denn bloß nicht bei sich haben? Ich saß da und weinte bitterlich, war kaum zu beruhigen. Immer wieder starrte ich auf die geschlossene Tür. „Mutti ... Mutti!!“
Überall in der Wohnung roch es noch nach ihrem Parfüm und nach ihrem Haarspray ... es roch nach Mutti. Ich umklammerte das Kissen auf dem Sofa, an das sie sich noch am Vormittag angelehnt hatte und das auch noch immer nach ihrem Parfüm roch. Tief atmete ich den Geruch des Kissens ein und hatte ein klein wenig das Gefühl, dass sie irgendwie noch da war.
Ich fühlte mich so verlassen. Sie war gegangen. Wieder einmal. Und wieder einmal ohne mich. Warum hatte sie denn nur keinen Platz und keine Zeit für mich in ihrem neuen Leben in der großen Stadt ... ‚Warum hast du mich nicht lieb Mutti?‘ dachte ich voller Schmerz und Verzweiflung. Eine Frage, die ich mir noch sehr oft stellen sollte in meinem Leben ... und die nie eine Antwort finden würde.
Meine Oma brauchte nach den Kurzbesuchen meiner Mutter immer lange, um mich einigermaßen zu beruhigen. Und so ging das jedes Mal, wenn meine Mutter „zu Besuch“ war. Himmel und Hölle. Berg und Talfahrt. Und jedes Mal zerbrach mein kleines Herz aufs Neue.
Die Tage nach ihrer Abreise vergingen sehr langsam. Aber dann gewann ich, wie jedes Mal, mein Gleichgewicht ganz allmählich wieder zurück. Das Leben ging weiter, dank meiner liebevollen Großeltern. (Gott segne alle Großeltern!) Sie schafften es immer wieder, meine kleine Welt zu reparieren, sie gerade zu rücken und heile zu machen ...
Aber Gott sei Dank gibt es ja die Zeit und mit jedem neuen Tag ging es mir dann wieder besser.
Ich war ein Kind, das kaum drinnen zu halten war. Ich wollte immer draußen sein, denn es gab stets was Spannendes zu entdecken in der Natur.
Wenn es nicht regnete, ging ich schon nach dem Frühstück raus auf die Straße zum Spielen und kam erst wieder zum Mittagessen nach Hause.
Und wenn dann um 6 Uhr am Abend die Kirchenglocke unserer kleinen Gemeinde läutete, war das für mich das Zeichen zum Abendessen nach Hause zu gehen, denn eines hatte Oma mir schon sehr früh beigebracht: „Wenn um 12:00 Uhr die Glocken läuten kommst du nach Hause zum Mittagessen und wenn du am Abend um sechs die Glocken läuten hörst kommst du zum Abendessen.“ - Das Leben in unserer kleinen Gemeinde am Rande unserer Heimatstadt war schön, gut und voller Regelmäßigkeit für mich ... eigentlich. Alles dort fühlte sich so richtig an.
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