»Sie haben nicht zufällig noch so ein Teil?«, fragte er sie und legte das zerknäulte, klebrige Papier auf den Tresen. Wortlos holte sie ihren eisernen Kalorienvorrat aus der Schublade und hielt ihn Reisser mit strengem Blick hin.
»Das ist mein Letzter. Bei Gelegenheit dürfen Sie meinen Vorrat gerne wieder auffüllen.«
»Sicher doch, ich werde ja heute nicht das letzte Mal hier sein, Gnädigste«, sagte er und riss gierig das Papier ab. Hinter der Bürotür Klopfers ertönte in diesem Augenblick unverkennbar Obladi Oblada von den Beatles. Lucy fluchte, aber nur innerlich. Klopfers Stimme war für Reissers Ohren laut genug. Er sah Lucy trotz vollem Mund mit spöttischem Grinsen an. Sie legte mit einem Seufzen auf.
»Wahrscheinlich hat er den unterirdischen Geheimgang benutzt«, sagte Reisser kauend und pulte mit dem Zeigefinger Karamellreste aus seinen Backenzähnen. »Oder er hat sich in sein Büro beamen lassen. Was das wieder den Steuerzahler kostet.«
»Schlucken Sie Ihre Bemerkungen und was Sie sonst noch im Mund haben erst mal runter und warten Sie hier!«, sagte sie im Befehlston und wuchtete sich aus ihrem Bürostuhl.
»Ich laufe nicht weg«, sagte er schmatzend, »aber ich geh auch nicht ans Telefon, wenn’s klingelt.« Sie verdrehte die Augen und klopfte an Klopfers Bürotür.
»Schön, dass Sie meine Zeitvorgaben neuerdings ernst nehmen«, sagte Klopfer. Zweifel setzte sich an den Besprechungstisch in dem geräumigen Büro seines Chefs. Es war Punkt 17 Uhr. Klopfer raffte ein paar Blätter zusammen und kam hinter seinem ausladenden Schreibtisch hervor. Auftritt Lucy mit einer Kanne Kaffee.
»Keine weiteren Störungen Lucy. Wenn noch so ein öffentlich Interessierter aufpoppt, wimmeln Sie ihn ab.«
»Mit welcher Begründung?«, fragte sie und stellte die Kanne neben die Tassen auf den Glastisch.
»Lassen Sie sich was einfallen. Oder schauen Sie in den Arbeitsanweisungen nach. Da steht doch für alle Fälle was drin.«
»Da bin ich aber mal gespannt«, murmelte sie in das oberste ihrer drei Kinne und schwebte aus dem Raum.
»War etwa die Presse schon da?«, fragte Zweifel und füllte die Tassen. Klopfer ließ sich ihm gegenüber nieder.
»Wundert Sie das? Es ist Sauregurkenzeit. Die kommen so sicher wie die Stechmücken.« Er nahm seine Tasse von Zweifel entgegen und schlürfte heftig.
»Welche Mücke war es denn?«, fragte Zweifel.
»Reisser, Mindelheimer Zeitung. Bin ihn nur mit äußerster Mühe losgeworden.« Zweifel wusste, was das bedeutete.
»Ich hoffe, Sie haben ihm nicht zu viel Honig versprochen, Chef, sonst haben Sie ihn morgen gleich wieder an der Backe.«
»Es ist meine Backe, Zweifel. Und nun lassen Sie mal hören, wo wir stehen.« Zweifel legte die bisherigen Zeugenaussagen und Ermittlungsergebnisse wie Puzzleteile auf den Tisch.
»Ein toter Mann in der Sauna und eine Massenpanik drum herum«, sinnierte Klopfer.
»Diese Panik wurde gezielt inszeniert, so viel ist sicher«, sagte Zweifel.
»Sicher ist gar nichts, Zweifel. Die Sache behagt mir ganz und gar nicht. Da spielt jemand den großen Manipulator. Das fängt schon bei dieser Kinderstimme an, die Sie und Melzick zum Tatort gelockt hat. Und dann diese ominösen Schreie. Die würde ich mir gern mal anhören. Haben Sie die Platte noch?«
»CD. Bring ich Ihnen mal vorbei.« Klopfer lehnte sich zurück.
»Da sorgt also jemand für markerschütternde Schreie, blockierte Türen, Rauchgaswolken und mysteriöse Durchsagen, die das Ganze zum Kochen bringen.«
»In so einer Situation, wie Fischli, der Bademeister, sie geschildert hat, achtet niemand auf zwei Sanitäter, die einen Körper auf einer Bahre durch die Gegend tragen.«
»Aha, soso. Wir sollen also denken, dass das Tohuwabohu extra zu diesem Zweck veranstaltet wurde. Aus genau diesem Grund müssen wir auch andersrum denken, Zweifel.« Der Kommissar nippte nachdenklich an seiner Tasse.
»Wenn die Panik und der Leichentransport nichts miteinander zu tun haben, wer sollte denn dann einen Grund gehabt haben, so ein Spektakel, das ganz böse enden kann, heraufzubeschwören?« Klopfer stellte seine Tasse ab, verschränkte beide Arme hinter dem Kopf und schaute an die Decke.
»Das weiß ich nicht. Wir wissen überhaupt noch viel zu wenig. Wir wissen nicht, wer Sie angerufen hat, warum diese Studentin, wie heißt sie gleich …?«
»Kohler, Henriette Kohler.«
»… warum diese Kohler nicht erschienen ist, wer an ihrer Stelle diese Durchsagen gemacht hat, wer diesen Seiteneingang aufgeschlossen hat, wer die ganze Elektronik lahmgelegt hat und wie, wer die Rauchgasgranaten gezündet hat …«
»Wenigstens wissen wir, wer geschrien hat«, warf Zweifel ein. Klopfer warf ihm einen scharfen Blick zu.
»Wir wissen auch, dass der Tote ein Sohn von Theo Kronberger ist. Hier …«, er schob Zweifel den Stapel Blätter zu, »das hat Lucy an Hintergrundinformationen zusammengestellt. Auswendiglernen! Leider kann ich morgen nicht dabei sein, ich muss nach München.« Zweifel überflog die zuoberst liegende Seite und murmelte ein für seinen Chef gut hörbares »wie bedauerlich«. Klopfer ignorierte die Bemerkung.
»Sie halten mich auf dem Laufenden. Auch was Penny Stocks und Dr. Kälberers Ergebnisse angeht. Ich erwarte morgen mehr Antworten als Fragen, Zweifel.«
Lucy saß oder besser thronte auf ihrem Bürostuhl, hatte Schokolade weder in der Hand noch im Mund und blickte skeptisch auf die unwegsame Landschaft aus Aktenordnern, Notizbüchern, Papierstapeln, Filzstiften, Lochern, Kalendern, Tassen, Tellern und einem einzelnen Radiergummi auf ihrem Schreibtisch, als sei irgendjemand anders dafür verantwortlich. Als sie Zweifel aus Klopfers Büro kommen sah, schnaufte sie erleichtert. Der Kommissar legte erst das Dossier über Kronberger und dann beide Ellenbogen auf ihren Tresen.
»Gute Arbeit, Lucy«, sagte er und klopfte auf die oberste Seite, auf der unter anderem auch ein Pressefoto Theo Kronbergers abgebildet war. Lucy nickte.
»War ’ne Kleinigkeit. Im Internet gibt’s jede Menge Klatsch und Tratsch über den Mann. Ich hab einfach die Gerüchte, Verleumdungen, die Home-Stories und die Aussagen der sogenannten für gewöhnlich gut unterrichteten Kreise weggelassen. Die sind für gewöhnlich gut erfunden.«
»Respekt. Das Weglassenkönnen ist eine große Kunst, Lucy. Manche Maler sagen das und viele Schriftsteller.«
»Meinetwegen. Ich hab da viel Erfahrung damit. Vielleicht sollte ich bei der VHS einen Kurs anbieten. ›Ihr Schreibtisch – eine Oase des Nichts‹ oder:›Von der Vielfalt zur Einfalt in dreiundzwanzig Schritten.‹ Allerdings gibt es da etwas, das ich nicht weglassen kann.« Sie öffnete ihre Schreibtischschublade und schenkte Zweifel einen verzweifelten Blick. »Schauen Sie sich das bloß an. Diese gähnende Leere macht mich fertig.« Zweifel riskierte ein Auge und war verblüfft.
»Ich glaube, das ist das erste Mal in sechs Jahren, dass in dieser Schublade ein Schokoladenvakuum herrscht. Wie kommt denn solches, Lucy? Kein Geld? Keine Disziplin? Keine Planung?«
»Ha!«, sie warf beide Arme in die Luft, »ich wurde heimgesucht.«
»Aha. Und von welcher Plage?«
»Ein Presseköter. Von der unerfreulichen Sorte.«
»Und den belohnen Sie auch noch?«
»Ich bin ja selbst fassungslos. Aber dieser Reisser …«
»Ich verstehe. Klopfer hat sowas erwähnt. Mit der Presse müssen Sie leben lernen, Lucy.«
»Aber ich hab ihn mit meinen letzten beiden Riegeln gefüttert. Die hatte ich mir gerade erst besorgt. Den werd’ ich doch nie wieder los.«
»Vielleicht frisst er Ihnen beim nächsten Mal aus der Hand. Da sollten Sie ein paar Leckerli parat haben.«
»Das Gleiche hat der Chef mir auch schon empfohlen«, sagte sie und seufzte.
»Apropos empfehlen«, sagte Zweifel und tippte auf das Dossier. Sie haben das alles ja schon gelesen. Was halten Sie von Kronberger? Wie würden Sie sich verhalten?« Lucy schob ihre Schublade vorsichtig zu und schaute Zweifel nachdenklich an.
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