Zweifel nickte.
»Adnan, der jüngere Bademeister hat mir bestätigt, dass es für solche Notfälle nichts taugt. Da geht es ausschließlich um vorbeugende Verhaltensmaßnahmen.«
»Sowas wie: ›Wenn Schilling kommt in die tiefe Hocke gehen und Arme über den Kopf‹?« Zweifel nickte.
»Muss ja einen Grund geben, dass die Leute hier so rasch wieder aufhören zu arbeiten. Haben Sie übrigens rausgefunden, wer heute Vormittag diese verunglückten Durchsagen verbrochen hat?«
»Nein.«
»Wie nein?«
»Ich weiß zwar, wer normalerweise die Durchsagen macht. Es sind zwei Studentinnen, die sich alle paar Tage abwechseln. Ihre Namen hab ich ganz unten separat auf der Liste notiert. Charlotte Burg wäre erst ab übermorgen an der Reihe
gewesen. Sie steckt mitten in der Vorbereitung für die Semesterprüfungen. Henriette Kohler wäre demnach heute dran gewesen.«
»Also, Melzick, wo ist das Problem?«
»Sie ist nicht erschienen.«
»Woher wissen wir das?«
»Die haben ein Zeiterfassungssystem in der Therme. Eine von Schillings ›innovativen Maßnahmen zur Mitarbeiterführung‹.«
»Aha, und was sagt uns das?«
»Sie hat sich heute nicht angemeldet. Sie war nicht da. Als sich das bei unserer kleinen Konferenz herausstellte, war Schilling sichtlich überrascht.«
»Wer hat denn dann die Durchsagen gemacht, zum Teufel?«
»Henriette Kohler jedenfalls nicht. Schillings Sekretärin hat wie wild herumtelefoniert, aber die Kohler hat niemand gesehen.«
»Interessant. Fischli hat erwähnt, dass er die Stimme von heute noch nie gehört habe. Das heißt im Klartext«, sagte Zweifel und lehnte sich vor, »wer auch immer die Durchsagen machte, führte Böses im Schilde und kam von außerhalb. So wurde die Panik erst richtig angefeuert.«
»Dazu passen die verriegelten Türen und die Rauchgasbomben. Da hat jemand ganz gezielt ein Chaos inszeniert.«
»Die Frage ist«, sagte Zweifel und rieb mit der Linken über seine Glatze, »ob dieser Jemand auch für die Leiche in der Stollensauna zuständig ist.« Melzick lehnte sich zurück. Maitre Max war mit zwei großen, dampfenden Tellern voller Spaghetti an ihren Tisch getreten.
»Ich vermisse die Parallelen«, sagte Zweifel mit kritischem Blick auf seine riesige Portion. Maitre Max schaute ihn an wie einen Schüler, der nach Extraferien fragt.
»Wie Sie vielleicht wissen«, hob er zu einer geduldigen Erläuterung an, »ist ein wesentliches Phänomen von Einsteins Relativitätstheorie der gekrümmte Raum.« Zweifel nickte und schaute ihn gespannt an. »Nun, wir haben diese Theorie um eine kulinarische Komponente erweitert. Durch die Krümmung der Nudel entsteht mehr Raum für Sugo.«
»Sie sollten im Theater auftreten.«
»Das tue ich bereits. Ich wünsche Ihnen viel Erfolg beim Studium Ihrer Teller.« Womit er sich entfernte.
»Alfo, mir fmeckt bie Theorie«, meinte Melzick mit vollem Mund. Zweifel griff zu Löffel und Gabel.
»Hat der gute Schilling eine plausible Erklärung dafür gehabt, warum die Polizei nicht sofort gerufen wurde?«
»Darf ich einen Wunsch äußern, Chef?« Zweifel hob fragend die Augenbrauen. »Bei uns zuhause galt früher mal die nervige Regel, beim Essen die Klappe zu halten. Das hab ich nie verstanden und ich habs auch nie geschafft.« Zweifel ahnte wohin der Hase lief.
»Aber jetzt sind Sie älter und weiser geworden.«
»Genau. Jetzt hab ich den Grund verstanden und mir vorgenommen, beim Essen nur zu essen und zu essen und sonst nichts zu tun. Hört sich das schräg an?« Zweifel wartete mit seiner Antwort, weil er den Mund gerade voller Spaghetti in köstlicher Sugo-Begleitung hatte. Dann hob er den Daumen und nickte. Und während die beiden sich schweigend in ihr Spaghetti-Studium vertieften, gelang es ihnen beinahe, den Fall zu vergessen.
Lucy war so in den ellenlangen Artikel über Theo Kronberger vertieft, dass sie den Mann mit dem Schnauzer erst bemerkte, als er sich mit beiden Ellenbogen auf ihren Tresen lehnte. Mit der Rechten hielt er ihr einen Presseausweis vor die Nase.
»Tachchen, Reisser, Mindelheimer Zeitung, ich bin der Erste, will ich hoffen«, sagte er und ließ einen Raucherhusten vom schwersten Kaliber hören. Lucy lehnte sich zurück, verschränkte ihre massigen Arme vor ihrer massigen Oberweite und runzelte die Stirn. Dieser Mensch war ihr auf Anhieb so unsympathisch wie kalte Pommes.
»Nee, Meister, außer Ihnen waren schon alle da«, war ihre prompte Antwort. Einen Moment lang stutzte er, dann verzog er den Mund zu einem gelbzahnigen Lächeln.
»Nicht mit mir, hübsche Frau. Ich bin es gewohnt, der Erste zu sein.« Er senkte seine Reibeisenstimme etwas. »Und wenn ich der Einzige bleibe, soll mir das schon was wert sein. Sagen Sie den Kollegen von der Konkurrenz einfach, Sie wüssten von nichts.« Er ging noch etwas tiefer mit seiner Stimme. »Und mir flüstern Sie einfach alles ins Ohr, wie wär’s?«
»Allein bei dieser Vorstellung rollen sich meine Fußnägel auf und ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihr Nikotin nicht in meine Richtung ausatmen. Vielleicht verzichten Sie überhaupt aufs Ausatmen, wie wäre das?« Er stieß einen heiseren Lacher aus, gefolgt von einem ausführlichen Hustenanfall. Lucy stieß nach. »Außerdem wäre es mir sehr lieb, wenn Sie unsere Putzfrau von Ihren unappetitlichen Hinterlassenschaften verschonen würden.« Er nahm die Ellenbogen vom Tresen, richtete sich auf und packte sein Grinsen ein.
»Hoppla, hübsche Frau, in so einem prachtvollen Körper hätte ich aber etwas mehr Humor erwartet.« Jetzt riss Lucy der Geduldsfaden.
»Packen Sie Ihr Testosteron mal wieder in den Kühlschrank. Sie werden es im Alter brauchen.« Das brachte ihn für einen Moment aus dem Konzept. Er räusperte sich.
»Schon gut, schon gut, lassen wir die Hormone mal aus dem Spiel. Die werden sowieso überschätzt. Ich will mit Ihrem Chef reden.«
»Warum?«
»Sagen wir mal: Massives öffentliches Interesse.«
»Er ist nicht da.«
»Glaub ich nicht. Und jetzt reicht es mit dem Geplänkel, Teuerste. Heute Vormittag gab’s eine Panik in der Therme, ausgelöst von einem mutmaßlichen Terroranschlag und das in Bad Wörishofen. Und Sie wollen mir weismachen, der zuständige Polizeichef sei nicht zu sprechen? Polizei hilflos, ratlos, sprachlos – was ist los mit Alois Klopfer? Ist er als Chef der hiesigen Polizei noch der Richtige? Wie gefallen ihm wohl diese Schlagzeilen?« Lucy reckte ihre drei Doppelkinne.
»Er wird sie nicht lesen.«
»Aber die Mehrheit der Bevölkerung wird sie lesen, sie wird sie geradezu verschlingen. Und ganz bestimmt wird sie der Chef von Herrn Klopfer lesen. Der Polizeipräsident ist sehr auf die Außenwirkung seines Vereins bedacht. Ganz zu schweigen davon, wie wohl die Reaktion von Herrn Kronberger ausfallen dürfte.« Er hatte sich in eine ordentliche Betriebstemperatur geredet. Lucy schaute ihm unbeeindruckt in die zusammengekniffenen Augen. Dann öffnete sie beiläufig ihre Schublade.
»Sie können ja plötzlich ganz manierlich formulieren. Lauter gerade Sätze. Wer hätte das gedacht«, sagte sie gelassen und griff nach einem Schokoriegel. »Hier! Das hat Sie doch sicher Energie gekostet. Beißen Sie da mal rein. Vermutlich können wir uns danach fast wie Erwachsene unterhalten.« Zum ersten Mal seit langer Zeit war Egon Reisser sprachlos.
Zweifel legte die Serviette, die mit physikalischen Formeln bedruckt war wie ein vollgekritzelter Spickzettel, neben seinen leeren Teller und atmete tief durch.
»Die Quantität wurde tatsächlich von der Qualität übertroffen. Langsam mach ich mir Sorgen, was die Preise in diesem Lokaltheater angeht.«
»Ist doch ein Arbeitsessen, Chef.«
»Richtig. Arbeit. Wie lautete jetzt Schillings Ausrede?« Melzick leckte ein letztes Mal ihren Löffel ab.
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