»Denken Sie, das hat was zu bedeuten?«, fragte Fischli. Zweifel drehte sich wortlos um und ging ein paar Schritte zurück, während er sein Handy herausholte und den Auftrag gab, das Außengelände abzusuchen.
»Schauen Sie sich auch die künstliche Insel im See an und vor allem den Zaun auf der westlichen Seite.« Dann drehte er sich zu den beiden Männern um. »Der Mann, den Sie gefunden haben, ist ertrunken.« Sie starrten ihn an. »Er hat das nicht freiwillig getan. Die Frage ist: Wie kam er in die Sauna, und zwar unbemerkt? Wir haben nämlich bisher noch niemanden gefunden, dem etwas aufgefallen wäre.«
»Dann muss er ja getragen worden sein«, murmelte Adnan leise und schlug die Hand vor den Mund.
»Das muss doch jemand beobachtet haben«, sagte Fischli.
»Etwas beobachten und etwas merkwürdig finden, das gibt es nicht oft bei Erwachsenen, weil die meisten das meiste schon mal irgendwo gesehen haben«, sagte Zweifel. Er wog sein Handy in der Hand. »Nur bei Kindern ist das etwas anderes.«
Als er aufwachte, hatte er einen scheußlichen Geschmack im Mund. Sonst hatte er nichts im Mund. Der Knebel war verschwunden. Er befühlte erleichtert mit der Zunge seine Zähne und seinen Gaumen. Er musste husten. Er wälzte sich aus der Seitenlage auf den Bauch und versuchte, irgendwie auf die Knie zu kommen, was ihm mit einiger Mühe trotz seiner gefesselten Arme und Beine schließlich gelang. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war. In den fensterlosen Keller drang kein Licht von außen. Nur unter der Tür war ein schmaler Lichtstreifen zu sehen. Künstliches Licht. Es roch nach Essig und nach Äpfeln. Er hörte Männerstimmen ruhig miteinander reden. Und er hörte Wasser tropfen. Schemenhaft konnte er am Kopfende der Matratze einen großen Behälter erkennen. Eine Wanne oder ein Bottich vielleicht, dachte er mit leichtem Unbehagen. Dann wurde ihm bewusst, dass die Männerstimmen verstummt waren. Er kniete auf der alten, feuchten Matratze und starrte auf den schmalen Lichtstreifen unter der Tür, der sich verdunkelte. Die Tür wurde geöffnet. Das künstliche Licht blendete ihn.
»Florian Kronberger«, sagte eine unnatürlich hohe Stimme, »wie geht es Ihnen?« Moritz Kronberger lief ein Frösteln über den Rücken. Die Person, die ihn mit dem falschen Namen angeredet hatte, war als dunkle Silhouette im Türrahmen stehengeblieben. Er räusperte sich und bekam einen Hustenanfall. Ein zweiter Schatten machte sich bemerkbar.
»Ich bin nicht …«, begann Moritz und rang nach Atem. Er kniete gefesselt auf der Matratze und versuchte, das Gleichgewicht nicht zu verlieren. Der zweite Schatten löste sich von der Silhouette und kam wortlos mit schweren Schritten näher. Er blieb neben dem Holzbottich stehen, den Moritz nun gut erkennen konnte. Das Wasser stand schwarz bis kurz unter dem Rand. Moritz versuchte vergeblich, die Gesichter der beiden zu erkennen.
»Florian Kronberger«, wiederholte die hohe Stimme, »wie geht es Ihnen?« Er schüttelte vorsichtig seinen Kopf. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seinen Nacken.
»Ich bin nicht …«, begann er erneut und holte tief Atem. Auf einen solchen Irrtum war er nicht vorbereitet. »Moritz Kronberger, verdammt!«, stieß er hervor.
»Das wissen wir«, sagte die hohe Stimme.
»Nein, nein, Sie wissen gar nichts!« Er zwang sich gewaltsam zur Ruhe, was für einen vierzehnjährigen Jungen nicht einfach war. »Ich bin nicht Florian, ich bin Moritz Kronberger. Sie haben den Falschen«, brachte er, mühsam beherrscht, hervor. Der Wasserbottich mit seinem schwarz schimmernden Inhalt nahm seine Aufmerksamkeit gefangen. Eine unausgesprochene Drohung ging von ihm aus. »Moritz Kronberger bin ich«, wiederholte er störrisch und mit rauer Stimme. Seine Kehle war ausgedörrt, er spürte brennenden Durst. Die beiden Schatten schwiegen. »Kann ich etwas zu trinken haben?«, fragte er stockend. »Sie haben gefragt, wie es mir geht. Ich habe Durst. Ich will was trinken!«
»Wir haben gefragt, wie es Florian Kronberger geht«, antwortete stoisch die hohe Stimme.
»Ich bin nicht Florian!«, schrie er in plötzlicher Wut. »Florian ist mein Bruder, ich bin Moritz, verdammt!«
»Ihr Bruder ist bereits tot«, sagte die hohe Stimme unbeteiligt.« Moritz traute seinen Ohren nicht. Sein Herz machte einen Satz. Fassungslos schüttelte er seinen Kopf. Seine Lippen formten lautlos die Worte. Er starrte die Schatten an, die unbeweglich warteten. Das Kratzen in seinem wunden Hals ließ ihn nur flüstern.
»Was? Was haben Sie da gesagt? Sie haben meinen Bruder …?«
»Er ist ertrunken«, sagte die hohe Stimme, »wie es geplant war.«
Elias war verschwunden. Gleich nach dem Abendessen hatte er sich in seinem Zimmer verkrümelt und war seither nicht mehr aufgetaucht. Das war ungewöhnlich. Gewöhnlich war er vom Fernseher nicht wegzukriegen.
»Tagsüber liest er, abends glotzt er«, hatte Fred vor einer Woche zu ihr gesagt, »dit kann nüscht jesund sin.«
»Seit wann machst du dir denn Jedanken um die Jesundheit«, hatte Johanna gefragt.
»Komm, sei friedlich«, war seine Antwort gewesen. »Die Reise wird ihn bestimmt uff andere Jedanken bringen.« Und jetzt saß Johanna in der Küche und fragte sich, was für Gedanken das wohl sein mochten. Fred schnarchte leise vor dem Fernseher, als sie an ihm vorbeischlich und an Elias’ Zimmertür klopfte. Als keine Antwort kam, öffnete sie die Tür. Er saß auf der Fensterbank und hielt ein Comicheft vors Gesicht.
»Allet klar bei dir?«, fragte sie ihn. Das Comicheft wackelte, als er nickte. Johanna zögerte und blickte sich in seinem Zimmer um, das wie immer penibel aufgeräumt war. Es bot ihr keinerlei Vorwand, länger als unbedingt nötig zu bleiben. Gerade als sie sich umdrehen wollte, fand sie doch einen.
»Wat liest’n?«, fragte sie möglichst beiläufig.
»Kennst du doch nicht«, kam es undeutlich zurück.
»Kenn ick wohl. Lucky Luke hab ick selbst schon jelesen in deim Alter. Der Cowboy, der schneller schießt als sein Schatten, stimmtet?« Wieder wackelte das Comicheft. »Wusste jarnich, dass man dit jetzt vakehrt herum liest«, sagte sie scheinbar verwundert. Elias zog die Nase hoch. Sie konnte sich gut vorstellen, dass er fieberhaft nach einer Ausrede suchte. Doch es kam keine. »Na denn …«, sagte sie und wollte sich umdrehen, doch da rutschte ein Foto zwischen den Seiten heraus und fiel mit einem harten Geräusch auf den Boden. Elias hielt das Heft weiterhin vor sein Gesicht, als sie sich bückte und das Foto aufhob. Ein ernstblickender blonder Mann war darauf zu sehen zusammen mit einer rothaarigen, sommersprossigen, jungen Frau, die ein scheues Lächeln wagte. Es war vor sechs Jahren aufgenommen worden, kurz vor dem Unfall. Es zeigte seine Eltern, Johannas jüngere Schwester und deren Mann. Sie kannte das Foto gut. Sie hatte es selbst gemacht. Elias versuchte, sich mit einer Hand die Nase zu putzen, während Lucky Luke ihm Deckung gab. Johanna wartete in Ruhe ab. Bei Elias hatte sie gelernt, abzuwarten. Sie legte das Foto auf seinen Schreibtisch, ganz an den Rand. Schließlich entschloss er sich, seine Deckung zu verlassen. Lucky Luke würde schon allein mit den Dalton-Brüdern fertigwerden. Er klappte das Heft zu, sprang vom Fensterbrett und warf es betont lässig auf sein Bett.
»Wenn du Lucky Luke kennst, dann weißt du bestimmt auch die Vornamen der Daltons.« Er wollte sie auf die Probe stellen. Wollte wissen, ob sie die Wahrheit gesagt hatte.
»Joe, Jack, William und Averell«, kam es wie aus der Pistole geschossen oder, in diesem Fall, wie aus dem Revolver. Damit war das Eis gebrochen. Elias warf einen flüchtigen Blick auf das Foto und stellte sich dann ans Fenster, mit dem Rücken zu seiner Tante. »Nur den Namen von dem komischen Hund konnte ick mir nie merken«, gab sie zu. Elias war schon weiter. Sie sah seinem Rücken an, wie er mit etwas zu kämpfen hatte. Sie wartete ab. Die Stille ist schwer zu ertragen für Jemanden, der etwas auf dem Herzen hat, das wusste sie aus eigener Erfahrung.
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