Hoffentlich, dachte Knolle.
„Wieso nur in dieser Hinsicht?“, warf Fräulein Müller ein, wobei sich ihr Körper straffte. Wenn sie an die Mittagspausen denke …
Nu wird’s spannend, dachte Knolle.
Das sei eine unscharfe Formulierung gewesen. Der Doktor wirkte jetzt ein wenig nervös. Er bat um Nachsicht und lobte mit Nachdruck ihre Hilfs- und Einsatzbereitschaft.
Vor allem in der Mittagspause, dachte Knolle.
„Dann is ja gut“, sagte Fräulein Müller und nahm Hannes bei der Hand.
Sie solle Falkenmeiers von ihm grüßen, und sie sollten Hannes zwei, drei Tage zu Hause behalten, und Hannes versicherte er, dass Fräulein Müller das schon richtig mache. Morgen werde er in der Mittagspause noch einmal nach ihm sehen.
Ausgerechnet in der Mittagspause, dachte Fräulein Müller und ihr Busen hob sich ein wenig höher als üblich.
Herr Falkenmeier streichelte die Hand seiner Frau, kurz, aber lang genug, dass sie die Berührung nicht als zufällig fehlinterpretieren konnte. Sie wusste, dass er sich mit dieser etwas verschämten Geste bei ihr bedankte, auch wenn er - damit das Intime nicht überhand nehme - der Berührung „aufstehen, es wird mal wieder Zeit“ mit auf den Weg gab.
Das ist nun mal seine Art, dachte Frau Falkenmeier.
Tatsächlich hatte sich bei ihrem Mann im Laufe der Jahre ein Hang zum Entzärteln eingestellt, als dürfe er sich emotionale Regungen nur als flüchtige Einmischungen erlauben. Abgleitungen ins Sinnliche mit möglicherweise unkontrollierbaren Nebenwirkungen mussten vermieden werden.
Jeden Freitagnachmittag legte Frau Falkenmeier ihrem Mann ihre Hand zurecht, damit er es einfacher hätte mit seinem Ritual. Auch tat sie ihm den Gefallen, erst nach seinem Weckruf aufzuwachen. Seit einem Vierteljahr ging das so, seit der ersten Übergabe.
Freitags zwischen vierzehn und sechzehn Uhr, so lautete die Vereinbarung zwischen Frau Falkenmeier und Bauer Lohmeier, Ottos Vater. Ihr Verhandlungspartner hatte sich bis jetzt dran gehalten. Es drohten immerhin Anzeige und Ehrverlust. Auch die Mengen stimmten. Frau Falkenmeier wog jedes Stück Fleisch nach. Ebenso die anderen Lebensmittel, soweit sie in Gramm messbar waren.
Nach einer an sich alltäglichen Balgerei auf dem Schulhof, bei der Hannes und sein Freund Bert allerdings krankenhausreif verletzt wurden - verursacht im wesentlichen durch Otto Lohmeiers Fußtritte -, hatte Frau Falkenmeier, die Gunst der bösen Tat erkennend, Wiedergutmachungsleistungen erhandelt, die ihren Mann vor jeder freitäglichen Übergabe zu der flüchtigen Streicheleinheit veranlassten. Der Freitag stand seitdem gleichrangig neben dem Sonntag. Der eine sicherte das materielle Überleben, der andere das geistige.
Falkenmeiers warteten auf Otto mit dem Paket.
Herr Falkenmeier sah immer mal wieder den Weg zu Lohmeiers Hof ab. Noch immer spürte er eine gewisse Spannung, die erst wich, wenn er das Paket unter Ottos Arm sah. Zunächst aber nahm er eine Frau mit einem Kind an der Hand wahr. Das Herannahen dieser beiden empfand er als eher ungünstig. Die Vorstellung, dass Otto nun auch aufkreuzen könnte, bereitete ihm Unbehagen. Diese Aktion sollte möglichst unbeobachtet über die Bühne gehen, dachte er.
Er misstraute den Gedanken der Leute. Böswillige, mit entsprechend böswilligen Unterstellungen, gab es immer, vor allem, wenn ein lernunwilliger Bauernsohn Pakete bei Lehrers ablieferte, in regelmäßigen Abständen.
Befürchtungen ganz anderer Art lenkten ihn jedoch auf ein Problemfeld, das er seit dem Weggang von Frau Jankowski als entsorgt angesehen hatte. Wenigstens auf absehbare Zeit.
Er erkannte in den beiden Herannahenden seinen Sohn Johannes an der Hand von Fräulein Müller. Für diese Konstellation fand er keine Erklärung. Sie war abwegig und gefährlich, nicht nur seinen Sohn betreffend, sondern auch in Bezug auf die unmittelbar bevorstehende Paketübergabe. Er tat das, was er in Situationen, die in seinem inneren Regelwerk nicht vorgesehen waren, immer tat. Er rief nach seiner Frau.
Diese sah das ungleiche Paar, fühlte sich überrumpelt, dachte, mein Gott und sagte: „Ist die das wirklich?“
„Ja natürlich“, sagte Herr Falkenmeier, „mit unserm Sohn.“
Frau Falkenmeier strich über ihr Kleid, schüttelte den Kopf und sagte, dass sie nach unten gehen wolle.
Manchmal ist sie zum Fürchten, dachte Herr Falkenmeier.
„Dieses …, dieses Flittchen kann was erleben. Und du Franz kümmerst dich um Johannes.“
Intuitiv war Herrn Falkenmeier nach Strammstehen , wären seine Blicke nicht noch intuitiver von Gestalt und Gang dieses fleischgewordenen schlechten Rufes, der sich Schritt für Schritt seinem christlichen Heim näherte, abgelenkt worden. Erst als er Teufel auch dachte, erkannte er, dass er seiner Moral den Anblick dieser Frau nicht länger zumuten konnte.
Er zog sich an den Ort in seiner Wohnung zurück, an dem er sich mit seinen Problemen noch am sichersten fühlte, an seinen Schreibtisch. Der freie Blick auf das Pastorat gegenüber mit der Kirche daneben schien ordnend auf Gedanken und Gefühle zu wirken. Der mächtige Kirchturm erinnerte ihn an die Orgel, die er bald wieder spielen würde, an die Knabenstimme seines Sohnes, die er mit Wohlgefallen auf seinem Instrument begleitete und an die verstummenden Misstöne der wenigen Frühmessenbesucher bei den Klängen der Orgel und dem Gesang seines Sohnes.
Vielleicht sollte ich ihn doch einmal loben, dachte er. Mal sehen.
Aber zu Kopf steigen sollte es ihm auch nicht. Hoffahrt und Eitelkeit könnten den kindlichen Glauben leicht ins Wanken bringen. Die Müllers und Jankowskis hätten dann noch leichteres Spiel mit den Lockrufen ihrer sündigen Leiber. Gottvertrauen in Ehrfurcht und Demut, darauf käme es schließlich an, vor allem bei Johannes, der doch Priester werden wolle und von einer Mission in fremden Kontinenten träume.
Und ausgerechnet der kommt mit seinen neun Jahren immer wieder mit solchen Frauen in Berührung. Vielleicht eine Prüfung, dachte er. Dass der liebe Gott auf diese Art seine Auserwählten vor die Wahl stelle, die Entscheidung vorbereite für ein geistliches oder weltliches Leben.
Mit Ungeduld sah Herr Falkenmeier dem Bericht seiner Frau entgegen.
Immerhin ein gutes Zeichen, dass er nicht hinzugezogen würde, dachte er. Allzu schlimm könne es dann ja wohl nicht sein. Dieses Fräulein Müller. Bei dem Aussehen könne man schon leicht auf die schiefe Bahn geraten, wenn Elternhaus und Religion keinen Halt gäben. Eigentlich schade, so eine ansehnliche Frau.
Die Stimme seiner Frau, die Hannes ins Bett schickte, beendete seine Gedanken an Fräulein Müller.
Dass man sich bei einem Sturz auf einer Wiese so verletzen könne, sei auch nicht alltäglich, sagte Herr Falkenmeier. Ein Glück, dass der Doktor und Knolle …, na ja, und Fräulein Müller habe sich schließlich auch tadellos benommen, das müsse man schon zugeben.
Das sehe sie jetzt auch so, sagte Frau Falkenmeier.
Donnerwetter!, Format hat sie. Im Gegensatz zu Fräulein Müller, da sind es mehr die Formen.
Vielleicht, dass die enge Zusammenarbeit mit dem Doktor eine heilsame Wirkung auf das Fräulein habe. Sei doch immerhin möglich.
„Möglich schon“, sagte Frau Falkenmeier. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass entschieden mehr Wirkung von Fräulein Müller auf Doktor Rankwitz ausgeht, aber das sagte sie nicht. Womöglich wecke ich noch schlafende Hunde, dachte sie, und sie besah ihren Mann mit einem prüfenden Blick.
Auf Johannes müsse man in Zukunft verstärkt aufpassen, sagte sie. Sie habe den Eindruck, dass er sich in Fräulein Müllers Gesellschaft sehr wohl gefühlt habe, hoffentlich nicht zu wohl! Andererseits, der Herr prüfe die Seinen oft besonders hart. Vielleicht treffe das ja auch auf Johannes zu.
Читать дальше