Die versteht ihr Handwerk, dachte er. Die ist ja noch besser als ihr schlechter Ruf.
Mit offenem Mund und verstörtem Blick sah Hannes auf den milchglasweißen Zauberer neben ihm.
Fieber, dachte er, ich hab bestimmt Fieber.
„Und jetzt blinkt’s auch noch bei dir, Anselm, auf der Brust, oder vielmehr da drin.“ Wie eine Lampe mit Wackelkontakt, dachte er. An - aus - an - aus – an …
„Oha, ich muss weiter. Mach’s gut. Bleib schön liegen, bis der Doktor - meine Güte, was macht die denn da mit dem -, na ja, also bis bald und nicht mehr in Kirschbäume hörst du. Den Ästen kann man nicht trauen, glaub mir. Mal brechen sie, mal brechen sie nicht. Du weißt doch, bei meinem Seil und mir hat er gehalten. Sollte ja auch. Aber trotzdem. Ich bin jetzt in C und M , das ist eine Abkürzung für Cosmos-Magnum, beziehungsweise Comag, aber das sagt bei uns keiner - nur damit du Bescheid weißt -, und du bist in Hermannsdorf. Gut, es gibt interessantere Orte als Hermanns…“
Erneutes Blinken unterbrach seine Erklärungen und ehe Hannes fragen konnte, was das alles zu bedeuten habe, sah er, wie Anselm sich langsam in dem Grün der Wiese auflöste, zuletzt das C&M auf seinem Rücken. Zurückgeblieben war nichts. Nicht mal ein kleiner Abdruck da, wo er gesessen hatte. Ein winziger Windhauch vielleicht, den Hannes gespürt hätte, wäre er bei Bewusstsein gewesen, oder ein verträumter Zwirbel, wie er sich abends am Strand über sanft auslaufenden Wellen bildet, allerdings selten und nur an wenigen dafür auserwählten Stellen.
Knolle hatte sich auf der Bank neben der Eingangstür niedergelassen. Es war noch nicht soweit. Die Praxis würde erst in einer viertel Stunde öffnen. Manchmal auch früher, meistens aber pünktlich um vierzehn Uhr. Heute wollte er nur verschnaufen auf seinem Weg in den Wald und die angrenzenden Wiesen und wenn möglich ein paar Worte mit dem Doktor wechseln, nur so, weil es ihm gut tat, mit dem Mann aus Pommern zu reden über dies und das und - bei leerem Wartezimmer - auch über seine beiden Leidenschaften, mit denen er lebte, wie auch schon sein Vater vor ihm. Wobei, genau genommen, hatte der es nur mit der einen, im Wesentlichen. Die andere war erst bei ihm, dem Sohn vom alten Keller, dazugekommen. Zwangsläufig, wie er meinte.
Endlich hatte er jemanden gefunden, der ihn verstand, der sogar etwas beizusteuern hatte zu dem, was ihn umtrieb bei Wind und Wetter.
Ausgerechnet einer aus der Kalten Heimat , dachte er. Der weiß, wovon ich rede und erkundigt sich und probiert aus und hilft weiter. Aber die hier, Dickschädel und Dösköppe. Nur im äußersten Notfall, wenn alle Stricke reißen, dann kommen se angekrochen, heimlich, weil sie Gerede fürchten.
„Ja, ja, wat de Buer nich kennt, dat frett he nich“, murmelte er vor sich hin.
„Da ist der Doktor aus anderem Holz geschnitzt.“
Mit Keller aus Asseln, genannt Knolle , so hatte er sich dem Doktor vorgestellt.
Macht ja nix , ’ne Assel kommt selten allein . Hauptsache keine Küchenschabe. Derartiges war dem Doktor nicht eingefallen.
Oder eingefallen schon, dachte Knolle. Aber er hatte sie zurückgehalten, die naheliegenden Sprüche.
Das hatte seine Neugierde geweckt auf diesen Flüchtling aus Pommern.
Selbst der Pfarrer hielt besser ’ne Assel im Keller als ’ne Wanze im Bett
für besonders witzig. Der Doktor aber hatte gelächelt, hatte ihn mit angenehm Rankwitz, genannt Doktor die Hand gegeben und ihn hereingebeten. Das war’s und dabei war’s geblieben, die Namen betreffend. Alles andere ergab sich wie von selbst, an üblichen Verläufen gemessen.
Knolles Leidenschaften waren dem Doktor nicht fremd. Die eine teilte er fast. Wenn er sie auch nicht mit Knollscher Hingabe verfolgte, so hatte er sich doch zu Beginn seines Studiums intensiv mit ihr beschäftigt, hatte alles gelesen, was er in Stettin über Medizinmänner, Schamanen und sonstige Randfiguren der Heilkunst auftreiben konnte, hatte in den hellen Nächten am Haff Frösche und Fischlaich miteinander verkocht in der Hoffnung, dass die Kraft des vollen Mondes seinen Sud mit heilenden Kräften verzaubere, hatte Gereimtes von Teufelspriesterinnen zu entschlüsseln versucht, hatte mit Schaudern an vernebelten Abenden Druiden aus den Verästelungen von Eichenmispeln aufsteigen sehen, wie sie mit Mörsern, Pfannen und Tiegeln den geheimnisvollen Kräften dieser Schmarotzer zu Leibe rückten und hatte schließlich nach Hexenfibeln Tees gebraut. Leider war es ihm nicht gelungen, deren Inhaltsstoffe in einer Dosierung aufeinander abzustimmen, die heilbringende Wirkungen zur Folge gehabt hätten. Stattdessen verharrten seine Mischungen im Dunkel des Unberechenbaren. Eilige Gänge zu Toilette und Waschbecken und andere unerfreuliche Begleiterscheinungen seiner Aufgüsse hatten ihn auf den Weg der konventionellen Lehre zurückgeführt. Die Hochachtung vor den Naturheilern und den sonstigen Vertretern der weißen Magie aber hatte er hinübergerettet in sein Studium und seine Praxis. Die hatten allem Anschein nach schon vor Paracelsus die Bedeutung der richtigen Dosis erkannt, die ihm selber bedauerlicherweise verborgen geblieben war.
Knolles zweite Leidenschaft nahm der Doktor zur Kenntnis, sie interessierte ihn auch, immerhin, obwohl er beim Thema Alkohol regelmäßig abwinkte. Den genoss er dann doch lieber in einem Glas Rotwein, oder auch mehreren. Für die Ergebnisse Knollscher Kartoffelexperimente konnte er sich nicht erwärmen. Auch die Einladung, an der Verfeinerung seiner Wässerchen mitzuwirken, lehnte er ab. Selbst der Hinweis, dass eigentlich erst Alkohol - dazu noch selbst erzeugter, da wisse man wenigstens, was man habe - die segensreichen Wirkungen von Kräuterauszügen zur vollen Entfaltung brächten, beziehungsweise ernstzunehmende Essenzen ohne Alkohol nur schwer vorstellbar seien, überzeugten den Doktor nicht.
Da setze er lieber auf seine seit Frau Jankowski, die er ja auch kennengelernt habe, gewachsenen Beziehungen zu den Soldaten Seiner Britischen Majestät, bei allem Respekt vor seinen Bemühungen.
Das bedauerte Knolle. Seine Zuneigung trübte es nicht. Trüb hingegen blieben seine Wässerchen.
Aber eines Tages würde er den Doktor überraschen mit einem Tröpfchen so klar und rein wie die Eiszapfen an seiner Dachrinne in klirrendkalten Vollmondnächten. Daran arbeitete er.
Er hörte Laute, die vom hinteren Teil der Arztpraxis zu kommen schienen. Verschwommenes Stöhnen versetzt mit Klagelauten in höherer Stimmlage.
Dass der Doktor schon vor der Sprechstunde bei der Arbeit sei, dachte Knolle. Sicher ein Notfall bei dem Gejammer, und er richtete sich darauf ein, dass die Tür heute wohl später geöffnet würde.
Er könnte auch weitergehen, überlegte er. Aber warum eigentlich. Und so überließ er sich der wohligen Trägheit dieser frühen Nachmittagsstunde.
Er senkte seinen Kopf weg von den vereinzelten Wolken hin zur Wiese, sah, dass unter dem Kirschbaum ein Junge lag, schob seinen Strohhut bis in die halbe Stirn und gab sich den Zufälligkeiten seiner nachmittäglichen Empfindungen hin. Er sah noch einmal hoch. Irgendein Detail hatte nicht ins Bild gepasst.
Ein Ast auf der Brust eines Jungen, der vor sich hin döst …
Knolle erhob sich, rief, ob alles in Ordnung sei und wusste schon, während er rief, dass den Jungen dort im Gras die Ordnung verlassen hatte.
Er überlegte, ob er sofort zum Arzt oder erst zu dem Jungen, entschied sich für den Jungen, sah, als er sich über ihn beugte, dass den auf jeden Fall kein Schlaf auf die Wiese gestreckt hatte. Er kannte den Widerschein tiefer Abwesenheit, der auf dem Gesicht des Jungen lag.
Er hob den Ast von der Brust, fühlte nach Atem und Puls, spürte Leben, lief zur Eingangstür des Doktors zurück, rief und rüttelte und forderte von Fräulein Müller, als sie - ihr Kleid in Sitz und Halt bringend - in der Tür stand, schnelle Hilfe. Ein Notfall unter dem Kirschbaum.
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