Mit „herrjee, schon wieder der Kirschbaum“ rief sie den Doktor aus seiner Praxis, und als der „ein Junge, wahrscheinlich ohnmächtig“ von Knolle hörte, fürchtete er das Schlimmste und er hoffte, dass es nicht schon wieder einen Verzweifelten zu diesem Baum getrieben hätte.
Er wies Fräulein Müller an, bei dem Jungen zu bleiben. Er und Knolle würden sich um die Liege kümmern. Auch wenn es sich nur um eine Ohnmacht handeln sollte, Vorsicht sei geboten. Eine Gehirnerschütterung sei auch nicht auszuschließen.
„Kommen Sie, Knolle.“
Zum ersten Mal, dass er Herr vergisst, dachte Knolle auf dem Weg in die Praxis. Er empfand es als Auszeichnung, fast wie das Angebot einer Bruderschaft.
„Siehste, genau in fünf Komma, du weißt schon.“
„Du schon wieder? Komisch, ich dachte du musst zurück nach … nach, na, du weißt schon.“ Oder hast du die Kurve nicht gekriegt, wollte er noch sagen. Lieber nicht, dachte er, nachher ist der noch beleidigt.
Anselm lächelte. „Ich weiß schon, wo’s lang geht, mein Kleiner. Aber auf ein paar Minuten kommt’s nun auch nicht mehr an. Bei uns Neulingen nehmen die es da oben noch nicht so genau.“
Gedanken lesen kann der auch, dachte Hannes.
Anselm saß nun auf der Liege neben ihm. Er informierte Hannes über den Transport vom Kirschbaum in die Praxis und erklärte ihm den Ablauf der folgenden Minuten.
„Gleich wird Knolle dem Doktor ein Angebot machen. Einen Augenblick, ich stelle dich mal kurz auf Knolle ein.“
Sanft strich er Hannes über die Schläfen. „So, jetzt müsste es klappen.“
„Knolle, der Frösche und Würmer kocht und durch den Fleischwolf dreht und auf Bäuche streicht, wenn Vollmond ist?“
„Woher hast du das denn?“
„Hab ich gehört, beim Bauern, beim Milchbetteln. Außerdem sehe ich keinen Knolle, weit und breit nich.“
Erstens sei das dummes Gerede und zweitens sei von sehen nicht die Rede gewesen. Er solle ihm vertrauen. Jetzt gleich …
Knolle räusperte sich, strich sich durch den Schnurrbart, befühlte sein Kinn und sagte: „Doktor, wenn es nur eine Ohnmacht ist, versuchen Sie es mal mit dem Auszug von neulich. Nur ein paar Tropfen auf die Stirn. Sie werden sehn.“
Selbst Heitkämpers Opa habe diese Behandlung nach drei Tagen Schützenfest und gehörigem Vollrausch wieder auf die Beine gebracht, wenigstens für den Transport nach Hause.
„Und was war mit dem Durchfall, Knolle“ - schon wieder ohne Herr , dachte Knolle - „anschließend?“ Der habe es ja nicht mal mehr bis zum Klo geschafft.
„Er hätt’s eben nicht trinken dürfen.“ Damit habe auch er nicht gerechnet, obwohl er den inzwischen eine halbe Ewigkeit kenne. Schon sein Vater habe mit dem seine Last gehabt, aber das gehöre jetzt nicht hierher.
„So Hannes, ich will’s auch nicht übertreiben. Was Knolle gesagt hat, hast du gehört. Gleich wird der Doktor deine Stirn einreiben, du wirst aufwachen, und ich werde nicht mehr da sein. Also hör gut zu. Es wird voraussichtlich lange dauern, bis wir uns wieder sehen, wahrscheinlich sogar sehr lange. Kann sein erst, wenn dein Körper sich von dir verabschiedet. Frag jetzt nicht, du merkst das schon rechtzeitig. Bis dahin kannst du mir alles erzählen, alles, hörst du. Ich werde dir immer zuhören, ganz bestimmt, auch wenn du mich nicht siehst, versprochen. Vergiss das nie! Und noch etwas. Er erhalte gerade die Nachricht, dass der Kirschbaum und die Wiese - in der Ausdehnung des Kirschbaumschattens zur Sommersonnenwende - seit seinem, man könne sagen Abgang und wegen einiger Vorkommnisse in früheren Jahren zum Magischen Ort erklärt worden seien. Auch dieses Qualitätssiegel solle er nicht vergessen. „Frag nicht. Behalte nur Magischer Ort.“
Anselm hielt ihm seine Handfläche entgegen, so, wie sie es gemacht hatten, als sein Freund Bert noch nicht abgereist war, wenn es etwas Besonderes zu besiegeln galt. Hannes legte seine Hand an die dargebotene, strich zwei Diagonale - wie ein Andreaskreuz - über die Handfläche, wollte noch fragen, wie es seinem Freund und dessen Mutter auf dem Schiff nach Kanada gehe, „oder sind die schon in Kanada?“, aber da hatte sich Anselm schon in der Fensterscheibe aufgelöst, wie vorhin auf der Wiese. Eine Gardinenfalte bewegte sich leicht zur Seite, so, als ob sie dem entschwindenden Anselm Platz machen wollte, und Hannes hörte, dass Knolle sagte, dass der Junge zu sich käme, seine Hand, sie bewege sich und sein Mund …, und alle hörten „Kanada“, und sie sahen, wie Hannes die Augen öffnete, und sie wunderten sich, dass er außer ‚Kanada’ auch noch „Anselm“ sagte.
„Da können se mal sehen Doktor, meine Tropfen.“
Knolle lächelte. Hannes dachte, dass das Lächeln ihm gelte und lächelte zurück.
„Wieso Kanada?“, flüsterte Fräulein Müller.
„Donnerwetter“, sagte Doktor Rankwitz und strich über Knolles Oberarm.
„Was ist los?“, fragte Hannes und richtete sich auf.
An s elm , dachte der Doktor. Ausgerechnet Anselm … Er überlegte, ob sie etwas übersehen haben könnten, und er betrachtete und befühlte Hannes’ Hals auf bisher Unerkanntes und bat Knolle, sich die Stelle unter dem Kirschbaum noch einmal genau anzusehen, auch den Ast. Anselm gebe ihm doch zu denken, und er - dazu noch als Arzt - wolle sich später keine Vorwürfe machen müssen.
Beide stellten Befund negativ fest.
Hannes fragte, ob er sich draußen auf die Bank setzen dürfe, in dem Zimmer würde es ziemlich komisch riechen.
Seine Tropfen, dachte der Doktor.
Mein Auszug jedenfalls nich, dachte Knolle.
„Der ist auch nicht der Typ für so was“, stellte Fräulein Müller fest, nachdem Hannes den Raum verlassen hatte.
Das sei beruhigend, sagte Doktor Rankwitz.
„Wer ist schon der Typ für Selbstmord“, murmelte Knolle.
„Na Anselm“, sagte Fräulein Müller, während sie im Spiegel ihr Haar ordnete.
„Ach so“, sagte der Doktor, sah zu Knolle, Knolle sah zum Doktor und beide wussten, dass man mit Fräulein Müller Geduld haben müsste.
Zufrieden mit ihren Haaren bot sie an, Hannes nach Hause zu bringen.
Hilfsbereit is se, dachte Knolle.
Gott sei Dank, fühlte Doktor Rankwitz.
Aber vorher seien noch ein paar Dinge zu besprechen, erklärte der Doktor und bat Fräulein Müller, den Jungen von der Bank draußen wieder hereinzuholen. Er wolle den Johannes heute vor den sicher gut gemeinten, aber doch auch sehr strengen Erziehungsmaßnahmen seines Vaters bewahren und seine Eltern auch nicht unnötig beunruhigen.
Anstelle der Kirschbaumkletterei genüge auch ein unglücklicher Sturz auf der Wiese, aus Unachtsamkeit, bei der Unordnung, die dort herrsche.
Ob das eine Lüge sei, fragte Hannes.
Nu ja, dachte Knolle.
Nettes Kerlchen, dachte Fräulein Müller. Der in groß … und strich Hannes übers Haar.
Gut, dass er die Frage stelle, sagte Doktor Rankwitz. Das sei wirklich eine interessante Frage.
Nu stottert der Motor, dachte Knolle.
Genau genommen, ein bisschen vielleicht, versuchte es der Doktor weiter.
Ein bisschen Lüge?, überlegte Fräulein Müller.
Aber eigentlich würden sie ja nur nicht alles erzählen, ein paar Details …, er überlegte, den Vorgang nicht in allen Einzelheiten berichten. Das Wesentliche, den Sturz, aber schon. Insofern, also ganz streng genommen, sei es eigentlich keine.
Nu ja, der hat schließlich studiert, dachte Knolle.
Ob er das verstanden habe.
Nee, sagte Hannes.
Dann sei es ja gut, wollte Doktor Rankwitz sagen, erschrak jedoch noch rechtzeitig über die Fehlschaltung in seinem Hirn, warf den Hebel um und sagte, er, Hannes solle die Schilderung des Vorfalls mal ruhig Fräulein Müller überlassen. - Fräulein Müller nickte lächelnd. - Wegen seiner Ohnmacht habe er das meiste sowieso nicht mitgekriegt und auf Fräulein Müller sei in dieser Hinsicht Verlass.
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