Ich sah Jo und Noah an.
Sie schüttelten die Köpfe, also las ich weiter. »Entgegen dem Ratschlag der erbosten Seherin und insgesamt erleichtert, eine Lösung für das Wächterproblem gefunden zu haben, vernichtete der magische Rat die selbsternannten Hüterinnen des Wissens nicht. Er statuierte ein Exempel, um die Musen zufriedenzustellen, und schloss die Hüterinnen nicht nur aus der Schwesternschaft der Inspiration aus, sondern nahm ihnen auch ihre Freiheit. Er verdammte die Gesetzesbrecherinnen dazu, in vom Rat erschaffenen Buchläden zu leben, ohne die Möglichkeit, diese jemals wieder zu verlassen. Außerdem nahm er ihnen die Unverletzbarkeit beim Springen durch die Bücher. Um jedoch ihr Leben, ihre Magie und die der Buchläden zu erhalten, müssen die Hüterinnen ausnahmslos jedes Buch im Laden regelmäßig aufsuchen. Nur wenn sie Teil einer Geschichte werden, können sie ihre Lebensenergie konstant halten. Obwohl sich in jedem Laden exakt die gleichen Bücher befinden, nämlich die Geburtsbücher der abtrünnigen Springerinnen, sind diese dazu verflucht, sich nie zu treffen, und haben die Möglichkeit verloren, den Inhalt der Bücher kurzfristig zu verändern, um Nachrichten zu hinterlassen. Dadurch wird verhindert, dass sie gemeinsam Pläne zum Brechen des Fluches und der Auflösung ihrer Verdammnis schmieden können.
Obwohl die Hüterinnen sonst keinen Einfluss auf die Buchauswahl in den Buchläden haben, können sie andere Bücher aufkaufen, wenn sie ihnen angeboten werden. Auch erscheinen Werke, die sich mindestens ein Jahr auf einer internationalen Bestsellerliste gehalten haben, automatisch in den Läden, was je nach Art des Werkes ein zusätzliches Risiko für die Hüterinnen birgt, denn auch diese müssen sie besuchen. Einzig die Werke im Raum der Bücher sind für die Hüterinnen tabu. Sie wurden für die Gesetzesbrecherinnen gesperrt, um ihnen nicht noch mehr Macht und Magie zu verleihen.«
Betroffen sahen wir uns an. Mir fehlten die Worte und selbst Jo und die Wächterin schwiegen.
Ich räusperte mich. »Das ist nicht alles. Hier steht noch mehr: Sollte eine Hüterin gezwungen sein, sich den Büchern fernzuhalten, nimmt ihre Lebenskraft ab, und ihre Magie erlischt in gleichem Maße. Dauert dieser Zustand zu lange an, wird der Raum der Bücher für alle, schwarz und weiß, zugänglich. Das ist dann meist der Tod der Hüterin, denn kein dunkles Wesen wird diese am Leben lassen.«
»Deshalb dürfen keine Horrorbücher in den Buchladen«, stellte Jo fest und rieb sich am Kinn. »Mathilde würde in Lebensgefahr geraten und dank der Bestsellerliste gibt es bestimmt schon einige, die sie irgendwo aufbewahrt.«
»Sie hat alles aufs Spiel gesetzt, um mir zu helfen«, sagte ich mit trockenem Mund.
»Nicht dir, sondern allen Wächterinnen dieser Gegend«, verbesserte Jo.
»Trotzdem«, erwiderte ich.
Noah nahm eine Karte: »Wenn Mathilde alle Bücher besuchen muss, wieso kann sie dann welche verkaufen?«
»Der Mann ist gut.« Jo knuffte ihn leicht.
Die Antwort erschien wie immer postwendend, denn nicht nur ich konnte dem Kasten Fragen stellen.
»Sobald ein Buch verkauft wird, ersetzt es sich irgendwo im Laden von selbst«, las Noah laut.
»Was bedeutet, dass ich bis zu meinem Tod sortieren könnte und trotzdem nie fertig würde.« Jo schüttelte den Kopf. »Warum sie uns wohl ausgerechnet heute den Tipp gegeben hat?«
»Vielleicht, weil ich in der letzten Zeit so wenig hier war. Wahrscheinlich wollte sie mich darauf aufmerksam machen, was sie für mich aufgegeben hat.«
> Da hat aber jemand ein schlechtes Gewissen <, bemerkte die Wächterin.
Noah schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht, Christina. Durch die Blume Aktionen sind nicht Mathildes Stil. Ich vermute eher, dass sie fand, es sei an der Zeit, uns etwas über sich mitzuteilen.«
»Was auch immer.« Ich seufzte. »Wir sollten anfangen, uns um die Rituale zu kümmern. Und ich gelobe, jetzt regelmäßiger herzukommen.« Ich nahm eine neue Karte mit der Aufschrift `allgemein´ aus dem Kasten. »In welchem Buch finden wir allgemeingültige Rituale, die bei allen Wesen angewandt werden können?« Keine fünf Sekunden später erschien die Antwort. »Generische Rituale für die Zwischenwelt, Regal neben der Tür, drittes Brett, Buch steht am Anfang.«
Noah holte das Buch und legte es auf den Tisch. Ich zog es zu mir und schlug das Inhaltsverzeichnis auf. Es war das erste Mal, dass der Karteikasten uns weder Kapitel noch Seitenzahl genannt hatte, was wohl bedeutete, dass ich frei wählen konnte.
»Ritual zum Zurückschicken in die Wandelhalle«, las ich und sah Jo und Noah an. »Das brauche ich nicht, da nehme ich das abgewandelte Wichtelritual, das hat bis jetzt immer funktioniert. Schutzringziehen (mit Trank)«, las ich weiter und sah Jo an. »Das könnte was sein, das hat damals auf dem Friedhof super geklappt. Allerdings solltest du ihn herstellen, du weißt, was reinmuss.«
Jo nickte. »Kein Problem. Hoffen wir, dass es diesmal nicht regnet, wenn wir ihn brauchen.« Er zog eine Grimasse.
»Oh!«, sagte ich kurz darauf erfreut. »Ritual zum Erschaffen einer Lichtpeitsche. Damit fange ich an!«
Kapitel 5 • Tsunami
Als wir den Raum der Bücher später verließen und ich gegen die Tür klopfte, damit niemand außer Mathildes Schlüssel sie wieder öffnen konnte, hatte ich Schmerzen im linken Arm. Das Ritual zum Erschaffen einer Lichtpeitsche beschränkte sich nicht nur auf das Erschaffen selbst, sondern man musste die Peitsche auch mit einer vorgegebenen Bewegung schwingen, sonst erlosch ihr Licht sofort wieder. Außerdem galt es, mit ihr ein Ziel zu treffen, sie um einen Körperteil des Wesens zu schlingen, am besten dessen Hals, denn wenn sich die Peitsche einmal um ein dunkles Wesen gewickelt hatte, verlor dieses seine Magie. Nur seine körperlichen Kräfte blieben ihm erhalten. Sollte es ihm allerdings mit Hilfe dieser gelingen, sich von der Peitsche zu befreien oder mich zu erreichen, kehrte seine Magie zurück. Vor mir lag noch eine Menge Arbeit.
»Ich hoffe, morgen kann ich den Arm wieder normal bewegen, sonst reißt mir Ihre Hoheit den Kopf ab«, sagte ich und massierte mir den linken Oberarm. Der Gedanke an eine zickige Sylvia von Kastanienburg war nicht gerade aufbauend. Zwar waren wir, nachdem wir ihr erst geholfen hatten, einen Poltergeist loszuwerden und dann ihren Vater davor zu bewahren, sich dauerhaft in einen Werwolf zu verwandeln, keine Feindinnen mehr, aber Freundinnen waren wir deshalb auch nicht. Dafür sorgten schon ihre drei Anhängerinnen. Ramona, Michelle und Janine. Das Dreigestirn, wie Jo sie nannte, hasste mich nicht nur, weil ich eine Außenseiterin war. Der Umstand, dass ich wesentlich besser Tennis spielte als sie, trieb sie zur Weißglut. In ihrer Vorstellung hatten Außenseiter keine besonderen Fähigkeiten zu haben und schon gar keine, die die ihren übertrafen. Und Sylvia konnte und wollte es nicht riskieren, ihre einzigen Freundinnen zu verlieren, indem sie sich dazu bekannte, uns zu mögen. Deshalb verhielt sie sich mir gegenüber so wie vor unserer Dämonenjagd. Zumindest in der Öffentlichkeit.
»Stimmt, morgen habt ihr ja Training«, sagte Jo. »Ich warte hier im Buchladen auf euch. Ihr kommt doch danach vorbei, oder?«
»Klar.« »Definitiv«, bestätigten Noah und ich.
»Und vorher stärken wir uns im La Cuisine «, beschloss Jo vergnügt.
> Das wird ein Spaß <, sagte die Wächterin und ich konnte das Grinsen in ihrer Stimme hören.
Mein Herz setzte bei dem Gedanken allerdings für einen Schlag aus. Morgen würde ich X wiedersehen. Schweigend, aber kribbelig vor Nervosität folgte ich Jo und Noah, die sich über Noahs letztes Trainingsspiel unterhielten, zum Eingangstresen. Als wir ihn erreichten, ging ich zu Mathilde und drückte sie.
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