> Er hatte Schmerzen <, versuchte die Wächterin mich zu beruhigen. > Warte doch erst einmal ab, was übermorgen passiert .<
Es gelang ihr nicht.
Die Angst, für X nicht genug zu sein, ließ mich nicht los. Außerdem, wenn ich mich jetzt schon an den Gedanken gewöhnte, war die Enttäuschung nicht so groß, sollte er mich übermorgen im La Cuisine ignorieren.
> Oh Mann, du bist ein hoffnungsloser Fall <, sagte die Wächterin und seufzte tief.
Als ich die Haustür aufschloss, begrüßte mich Kleine, unsere Katze, wie immer überschwänglich. Überraschenderweise war auch meine Mutter schon zu Hause. Im Museum, in dem sie als leitende Altertumsforscherin arbeitete, schien wenig los zu sein.
»Tinchen?«, rief sie und kam aus der Küche. »Lass dich anschauen.« Als sie einen Blick auf mein Gesicht warf, stutzte sie. »Was ist passiert? Wurde die Zahnspange nicht abgenommen?«
»Doch. Und ich habe X getroffen und er hat mich geküsst. Bevor die Spange rauskam. Mehrmals«, fügte ich hinzu und fing wieder an zu weinen.
»Und warum hast du dann geweint?«, fragte meine Mutter verwirrt. Dann wurde ihr Blick hart. »Hat er etwas getan, was du nicht wolltest?«
»Nein, nein«, beeilte ich mich, zu sagen.
»Ich mache dir einen Vorschlag. Ich koche uns eine heiße Schokolade ...«, weiter kam sie nicht, denn ich fing wieder an zu heulen. Ich spürte, wie die Wächterin die Augen verdrehte und kam mir selbst albern vor, aber die Tränen wollten nicht versiegen.
Meine Mutter reichte mir ein Taschentuch. »Schnauben und Erzählen, von Anfang an«, befahl sie.
Ich tat wie geheißen. »Er war verändert, nachdem wir die Eisdiele verlassen hatten. Er hat nicht nach meiner Telefonnummer gefragt und sich nicht mal umgesehen, sondern ist einfach so verschwunden«, beendete ich den Bericht kurz darauf.
Meine Mutter schwieg einen Moment. »Warst du glücklich, während ihr zusammen wart?«
Ich nickte.
»Schien er glücklich gewesen zu sein?«
Wieder nickte ich.
»Aber zum Schluss ...«, begann ich.
»... hat er einfach nicht mehr so getan, als würde ihm nichts wehtun«, beendete meine Mutter den Satz. »Ich glaube, du machst dir zu viele Gedanken und du hast es wirklich nicht nötig, dir Sorgen zu machen. Ich meine, er hat dir vor versammelter Mannschaft eine Liebeserklärung gemacht und heute in der Öffentlichkeit mit dir rumgeknutscht.«
Ich musste an das denken, was ich auf seinem Schoß gespürt hatte, und wurde rot. Das hatte ich meiner Mutter nicht erzählt und bei dem Gedanken daran fühlte ich mich ein bisschen besser. »Danke. Mama, ich verschwinde in mein Zimmer und rufe kurz Anne an, OK?«
»Vorher zieh bitte die Schuhe aus. Das scheinst du in der letzten Zeit immer wieder gerne zu vergessen.«
Ich verdrehte die Augen, musste dabei an X denken, schlüpfte aus den Sneakers, stopfte sie in unseren hellgelben Schuhschrank und ging durch den Flur zu meinem Zimmer. Kleine folgte mir auf dem Fuß. Ich nahm das Smartphone aus der Tasche der Jeansjacke, zog sie aus und ließ sie auf den Boden fallen. Kleine nutzte die Gelegenheit und legte sich sofort darauf. Katzenhaarfreie Kleidung wurde eh überbewertet. Als ich mich auf das Bett schmiss, erhob sich Kleine, sprang zu mir und kuschelte sich an mich. Seufzend ging ich in den Videochat und rief meine beste Freundin Anne an. Seit meine Mutter und ich umgezogen waren, lebten wir in verschiedenen Städten und momentan vermisste ich sie noch mehr als sonst. Nach einer halben Stunde Videocall ging es mir besser. Wir hatten alle Seiten der Geschichte beleuchtet und jeden Dialog interpretiert. Am Ende war Anne zum gleichen Ergebnis gekommen wie meine Mutter. X hatte sich zwar komisch verhalten, aber ich musste mir keine Sorgen machen. Als ich aufgelegt hatte, erlaubte ich mir ein kleines bisschen Hoffnung und suchte meine Mutter, um ihr endlich die spangenlosen Zähne zu zeigen und nach dem Abendbrot zu fragen.
Obwohl sich die Dunklen seit der Vernichtung des Wolfswesens nicht mehr gezeigt hatten und auch der schwarze Engel verschwunden schien, hatte ich beim Schlafengehen ein flaues Gefühl im Magen. Da die Wächterin ebenfalls angespannt war, hatte es eindeutig nichts mit X zu tun. Ich holte mein Druidenmesser, das mir beim Ausüben von Ritualen, Schneiden von Dimensionen und Vernichten dunkler Wesen half, aus meiner Schultasche und schob es mit der Klinge zuerst unter das Kopfkissen.
> Gute Idee <, sagte die Wächterin. > Es wird etwas geschehen .<
»Ich liebe deine kryptischen Ankündigungen«, erwiderte ich und spürte, wie sie mir die Zunge herausstreckte. Bevor ich ins Bett ging, öffnete ich die Zimmertür noch einmal einen Spaltbreit, rief: »Gute Nacht, Mama«, wartete auf ihr »wünsche ich dir auch, Tinchen«, und schloss die Tür wieder. Mit klopfendem Herzen und äußerst wachsam krabbelte ich unter die Bettdecke, löschte das Licht und wartete. Es dauerte nicht lange und Xs wunderschönes Gesicht beherrschte meine Gedanken. Wie hatte ich jemals denken können, dass er zu perfekt wäre, um ihn zu mögen? Xs Mund verzog sich zu einem Lächeln, so als hätte er meine Gedanken irgendwie empfangen, und ich lächelte zurück. Ich konnte gar nicht anders.
Kapitel 3 • Weniger ist mehr
Das Klingeln des Weckers riss mich aus einem Traum. Mit hämmerndem Herzen setzte ich mich auf, holte ein paar Mal tief Luft und versuchte, mir die Details des Traums in Erinnerung zu rufen.
Ich war dem schwarzen Engel bei Vollmond durch einen Wald gefolgt. Obwohl ich ihn weder richtig hatte sehen noch einholen können, war ich mir sicher, dass er es gewesen war. Ich hatte es gespürt, das Gefühl erkannt, das er in mir auslöste, wenn er in meiner Nähe war. Ich erinnerte mich, dass ich ihm eine ganze Weile ohne Furcht gefolgt war und dann plötzlich Angst bekommen hatte. Von jetzt auf gleich hatte ich eine mächtige dämonische Energie gespürt, die nicht von dem Engel ausgegangen war. Von da an hatte ich mich wesentlich vorsichtiger vorwärts bewegt und, noch bevor ich beim Ziel angekommen war, geahnt, welches es sein würde. Nach der letzten Wegbiegung war aus meiner Ahnung Gewissheit geworden. Vor mir hatte sich die Burgruine am Hexentritt erhoben, in deren Innerem sich ein Tor Luzifers befand. Gerade als eisige Finger nach mir gegriffen hatten, war ich durch den Wecker aus dem Traum gerissen worden.
Ich seufzte und rieb mir über die Arme, um die Gänsehaut zu vertreiben. Es gab keinen Zweifel. Etwas Dunkles und sehr Mächtiges war auf dem Weg zu uns.
»Ich weiß überhaupt nicht, warum du immer so auf den Engel schimpfst«, wandte ich mich lautlos an die Wächterin. »Er hat mich schon wieder gewarnt.«
> Oder er will mal wieder spielen <, entgegnete sie. > Denk an das Wolfswesen! <
»Als wenn ich das vergessen könnte, du erinnerst mich ja ständig daran.«
Der schwarze Engel hatte mich im Sommer daran gehindert, das Wolfswesen zu vernichten. Dadurch hätten wir Herrn von Kastanienburg fast verloren. In allerletzter Minute und erst, als der Engel wieder verschwunden war, hatte ich es ein zweites Mal versucht und war erfolgreich gewesen. Trotzdem. Bis jetzt hatte mir der schwarze Engel entgegen jeder Prognose nichts getan. Im Gegenteil, er war mehrfach in meinen Träumen aufgetaucht, um mich vor etwas zu warnen.
Laut Pater Daniel, der uns in religiösen Fragen mit Rat und Tat zur Seite stand, konnte das daran liegen, dass dieser spezielle schwarze Engel ein Zweifler war, der sich noch nicht ganz für Luzifer entschieden hatte. Pater Daniel war darauf gekommen, da ich, ohne es zu bemerken, eine Feder des Engels aus der Zwischenwelt mit in die Kirche gebracht hatte und sie nicht sofort in Flammen aufgegangen war. Allerdings hatte er auch gesagt, dass schwarze Engel gerne mit ihren Opfern spielten und es niemanden gab, der sich diesen entgegenstellen konnte. Außer einem anderen Engel. Meinem persönlichen Schutzengel zum Beispiel, von dem ich allerdings weder wusste, wer er war, noch wo er sich aufhielt.
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