Händchenhaltend machten wir uns auf den Weg. Das Gefühl seiner Finger, die mit meinen verschränkt waren, machte mich so glücklich, wie ich es nie zuvor gewesen war. Vorsichtig sah ich zu ihm hinüber. Er betrachtete mich ebenfalls, lächelte und drückte leicht meine Hand. Sie kribbelte und ich musste mich daran erinnern, zu atmen.
Wir erreichten die Eisdiele, in der Jo, Noah und ich meinen vierzehnten Geburtstag gefeiert und von der aus wir uns anschließend das erste Mal auf den Weg zu Mathildes Buchladen gemacht hatten. Hier hatte alles angefangen.
»Drinnen oder draußen?«, erkundigte sich X und riss mich aus meinen Erinnerungen.
Ich warf einen Blick durch die Fensterscheiben und auf die Eckbank von damals.
»Draußen«, entschied ich.
X wählte einen windgeschützten Tisch in einer Ecke und wartete, bis ich mich gesetzt hatte.
»Erzähl mir was über dich«, bat er, setzte sich neben mich und nahm wieder meine Hand. »Im La Cuisine ist die Zeit immer so kurz. Ich weiß fast nichts von dir.«
Ich zog eine Grimasse. Über mich zu sprechen, gehörte nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Trotzdem gab ich mir einen Ruck.
»Du weißt, dass ich mit Jo und Noah befreundet bin«, sagte ich und X verdrehte wieder die Augen. Ich kicherte. »Na gut, du weißt, dass mein Vater in London wohnt, was dich bestimmt darauf hat schließen lassen, dass meine Eltern geschieden sind.« Er nickte.
»Dass ich gut Tennis spiele und meine mir angeborene Tolpatschigkeit sind dir bestimmt auch nicht entgangen. Und damit weißt du schon fast alles, was es über mich zu wissen gibt«, endete ich.
Den wichtigsten Teil hatte ich unterschlagen, aber den konnte ich ihm nicht verraten. Die meisten Menschen glaubten nicht an Magie und ich hatte nicht vor, auszutesten, ob X es tat.
»Das `fast´ ist es, was mich interessiert«, sagte er und sah mich abwartend an.
»Wisst ihr schon, was ihr wollt, oder braucht ihr die Karte?«, unterbrach uns die Bedienung und schmachtete X an.
»Heiße Schokolade mit Sahne«, bestellten wir wie aus einem Munde.
Verblüfft sah ich ihn an. »Heiße Schokolade, echt?«
Er nickte. »Manchmal, wenn alles perfekt ist, dann braucht es heiße Schokolade mit Sahne.«
Ich schwieg verwirrt. Im letzten Winter hatte ich von ihm geträumt und in meinem Traum war heiße Schokolade mit Sahne ebenso ein Thema gewesen wie ein verpatzter Kuss. Mit allem hatte ich seitdem gerechnet, aber nicht damit, dass wir irgendwann einmal wirklich zusammen heiße Schokolade trinken würden.
»Verrate mir etwas von dir, was ich noch nicht weiß,« bat X und streichelte wieder mit dem Daumen über meinen Handrücken.
Das Kribbeln, das er damit in mir auslöste, brachte mich aus dem Konzept.
Ich bin eine Wächterin und jage dunkle Wesen, wäre mir fast herausgerutscht. Stattdessen sagte ich das Nächste, was mir in den Sinn kam. »Ich habe von dir geträumt und in meinem Traum haben wir auch heiße Schokolade getrunken.« Ich spürte, wie ich rot wurde und sah schnell von ihm weg. Wieso erzählte ich ihm immer all das, was ich sonst nie sagen würde?
»Hey«, sagte er leise und ich sah ihn an. »Falls du es nicht wissen solltest, das ist ein wunderschönes Kompliment.«
Ich lächelte zaghaft. »Jetzt bist du dran, denn ich weiß noch weniger von dir, als du von mir.«
»Was möchtest du wissen?« Er verschränkte seine Finger mit meinen und ein heißes Glücksgefühl durchströmte mich.
»Wie alt bist du? Wo wohnst du und wo warst du, bevor du hierhergezogen bist?«
X grinste. »Und meine Schuhgröße interessiert dich nicht?«, erkundigte er sich, zog mich näher und küsste mich sanft.
Sofort war alles, was ich wissen wollte, zweitrangig. Wen interessierte es, wie alt er war, wenn ich ihn küssen konnte?
»Hier kommen eure heißen Schokoladen«, unterbrach uns die Kellnerin und stellte die Tassen vor uns auf den Tisch. Die von X schob sie mit einem Lächeln zurecht, für mich hatte sie nur einen bösen Blick übrig. Ich seufzte. Das würde mir jetzt wohl öfter passieren. Falls das heute nicht ein einmaliges Erlebnis war.
> Fühlt es sich so an? <, erkundigte sich die Wächterin.
Ich schüttelte in meinen Gedanken den Kopf. Aber sicher war ich mir trotzdem nicht. Ich angelte mit dem Strohhalm Sahne von der Schokolade und schob sie mir in den Mund. Als ich aufsah, ruhte Xs Blick auf mir. Sofort wurde ich wieder rot.
»Du hast meine Fragen nicht beantwortet«, sagte ich, um mich abzulenken.
Er seufzte. »Ich bin siebzehn, fast achtzehn, wohne in einem Einzimmerapartment über dem La Cuisine und bin in Paris geboren.« Er nahm einen Schluck Schokolade.
Paris. Wie romantisch. »Warum bist du aus Paris weg und wie bist du ins La Cuisine gekommen?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich wollte etwas Neues sehen, also bin ich auf Reisen gegangen. Als ich hier ankam, brauchten sie im La Cuisine einen Kellner und ich einen Job.«
Es war deutlich, dass er genauso ungern über sich sprach wie ich über mich, deshalb bohrte ich vorerst nicht weiter. Eine Weile genossen wir schweigend die Schokoladen, dann drückte X meine Hand.
»Sei mir nicht böse, aber ich glaube, ich muss mich hinlegen.«
Erschrocken sah ich ihn an. »Sind die Schmerzen schlimmer geworden?«
Er schüttelte den Kopf. »Sie sind genauso schlimm wie vorher, nur langsam kann ich sie nicht mehr ignorieren.« Mein Blick musste Bände gesprochen haben, denn er zog mich näher und küsste mich. »Die Zeit mit dir war es wert.«
Bevor ich protestieren konnte, steckte er Geld in das Kästchen mit der Rechnung, das die Bedienung zusammen mit den Tassen auf den Tisch gestellt hatte, und erhob sich mühsam. Ich stand ebenfalls auf.
»Morgen habe ich schon etwas vor«, sagte er, während wir Hand in Hand zurück in die Fußgängerzone traten.
Ich spürte das Piksen der Enttäuschung.
X legte mir die Hand an die Wange. »Aber komm doch übermorgen ins La Cuisine . Dann machen wir etwas aus.« Er hauchte mir einen Kuss auf die Lippen, lächelte mir noch einmal zu und ließ mich stehen.
Während ich ihm, verwirrt über das abrupte Ende dieses traumhaften Nachmittags, dabei zusah, wie er langsam davonging, präsentierte sich meine ganz persönliche Dämonin, die Unsicherheit, mit hämischem Grinsen. »Er hat wieder nur mit dir gespielt«, flüsterte sie. »Er hat dich nicht einmal nach deiner Telefonnummer gefragt, und seine hat er dir auch nicht gegeben. Er hat sich mit dir eingelassen, weil er hoffte, dass aus der Raupe ein Schmetterling wird. Jetzt, wo die Zahnspange weg ist, was er, nebenbei gesagt, nicht einmal bemerkt hat, weiß er, dass du immer eine Raupe bleiben wirst, und hat das Interesse verloren. Siehst du, er ist um die Ecke gebogen, ohne sich noch einmal umzudrehen.«
Ich versuchte, sie zu ignorieren, doch meine Augen füllten sich mit Tränen.
> Echt jetzt? <, fragte die Wächterin. Dann schwieg sie wieder.
Ich machte mich bedrückt auf den Weg zur Bushaltestelle und versuchte die Unsicherheit zum Verstummen zu bringen, aber sie war hartnäckig. Und irgendwie hatte sie ja recht. Ich vermisste X jetzt schon, aber ihm schien es nicht so zu gehen, sonst hätte er mich doch sicher nach meiner Handynummer gefragt. Wenn wir uns morgen schon nicht sahen, hätten wir wenigstens ein paar WhatsApp austauschen können. Auf der Fahrt nach Hause starrte ich vor mich hin, ließ die Zeit mit X noch einmal Revue passieren und suchte nach Anzeichen dafür, dass er es ernst meinte. Es gab genauso viele wie für das Gegenteil und was mir schließlich in Erinnerung blieb, war, wie er, ohne sich noch einmal umzudrehen, um die Ecke bog. Als ich aus dem Bus stieg, fing es zu allem Überfluss an, zu regnen. Ich nahm es als zusätzliches, schlechtes Ohmen und meine mühsam zurückgehaltenen Tränen begannen zu fließen. Während ich nach Hause lief, schluchzte ich lautlos.
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