»Warum willst du immer nur das Schlechte in ihm sehen?« Ich streckte mich, zog das Druidenmesser unter dem Kopfkissen hervor und stand auf.
> Eine von uns muss es ja tun, sonst fällst du ihm das nächste Mal um den Hals und er hat gewonnen. <
Bei »um den Hals fallen« musste ich sofort an X denken. Mein Herzschlag beschleunigte sich und in meinem Magen bildete sich ein Klumpen. Wenn ich doch nur wüsste, ob ich ihm wirklich etwas bedeutete. Jo und Noah fielen mir ein. Sie waren nicht nur meine besten Freunde, sondern auch meine Partner bei der Jagd auf dunkle Wesen. Sollte ich ihnen sagen, was mit X geschehen war? Wir hatten vereinbart, keine Geheimnisse voreinander zu haben, aber ich war mir ja noch gar nicht sicher, was das zwischen X und mir war. Hatten wir nur geknutscht oder wollte er wirklich mit mir zusammensein? Während ich das Druidenmesser in einen weichen Lappen wickelte und es anschließend in meine Schultasche packte, beschloss ich, vorerst nichts zu sagen. Morgen, wenn ich wusste, wie es weiterging, würde ich ihnen alles erzählen. Jetzt war erst einmal das Wesen wichtig, das vorhatte, in unsere Dimension einzudringen. Wir mussten zum Tor, daran bestand kein Zweifel. Ich verließ mein Zimmer, streichelte Kleine, die mich begeistert begrüßte, und winkte meiner Mutter zu, die gerade in die Küche ging.
»Morgen Tinchen«, murmelte sie und ich war froh, dass sie keine Antwort erwartete. Meine morgendliche Unzurechnungsfähigkeit hatte ich eindeutig von ihr geerbt.
Im Bad griff ich nach der Zahnbürste und als ich den Mund öffnete, lächelte ich. Das Warten hatte sich wirklich gelohnt. Während ich meine Zähne putzte, was sich nach fast zwei Jahren mit Zahnspange ungewohnt anfühlte, betrachtete ich mich im Spiegel. Sah ich tatsächlich anders aus oder hatte ich mir das gestern nur eingebildet? Ich spuckte die Zahncreme aus und studierte mein Gesicht. Meine Lippen erschienen mir voller, einladender als gestern Morgen.
> Du hast ne Klatsche <, sagte die Wächterin, aber ich konnte das Grinsen in ihrer Stimme hören. > Allerdings musst du dir mal wieder ein paar neue BHs zulegen, die alten sind zu klein, falls du es nicht bemerkt haben solltest. <
Ich blieb ihr eine Antwort schuldig und seufzte nur genervt, denn was sie sagte, stimmte. Büstenhalterkaufen war nur so was von peinlich. Deshalb hatte ich es immer wieder aufgeschoben.
Als ich fertig angezogen in die Küche trat, sah meine Mutter von ihrer Kaffeetasse auf. Ihr Blick blieb an meinem Oberteil hängen. »Tinchen, du brauchst neue BHs«, sagte sie und ich verzog das Gesicht.
»Ich weiß«, gab ich zu und ignorierte das Feixen der Wächterin.
»Ich muss heute in die Stadt, soll ich dir welche besorgen?«
Ich hätte fast ja gesagt, als mir X einfiel. Ich wusste noch nicht einmal, ob er und ich ein Paar waren, aber meine Gedanken stolperten in eine Richtung, in die ich sie noch nie geschickt hatte. Ich wurde knallrot und schüttelte wild den Kopf, was sowohl für die Gedanken, als auch für die Frage meiner Mutter Gültigkeit hatte.
Letztere sah mich nachdenklich an und nickte. »Ich packe dir zusätzliches Geld in die Frühstückstüte. Und wenn ich dir einen Tipp geben darf: Weniger ist mehr und dass es sich lohnt, auf etwas zu warten, was einem wichtig ist, haben dir deine Zähne hoffentlich bewiesen.«
Da ich nicht wusste, was ich darauf sagen sollte, nickte ich ebenfalls und hoffte, dass mein Deo durchhalten würde, denn mir war der Schweiß ausgebrochen. Was für eine oberpeinliche Unterhaltung.
Als ich vor der Schule aus dem Auto meiner Mutter stieg, warteten Jo und Noah wie immer am Eingang zum Pausenhof.
»Warst du erfolgreich?«, erkundigte sich Noah, als ich die beiden erreicht hatte.
Ich zuckte mit den Schultern. »Wie man es nimmt. Wenn du das hier meinst ...« Ich zeigte ihm ein strahlendes Lächeln. »... dann schon. Allerdings hatte ich heute Nacht Besuch.«
Jo und Noah begriffen sofort.
»Wirklich oder in einem Traum?«, erkundigte sich Jo, eine Spur blasser als vorher und stützte sich auf seine Krücken.
»In meinem Traum«, erklärte ich und er atmete auf.
»Man ist inzwischen ja schon für die kleinen Dinge dankbar.« Er grinste. »Deine Zähne sehen übrigens super aus, Vulkanchen.«
Obwohl ich nicht mehr leugnen konnte, dass an Jos Spitznamen für mich etwas dran war, verzog ich das Gesicht. Gefallen musste er mir deshalb ja trotzdem nicht.
»Was wollte er?«, fragte Noah und wir setzten uns langsam in Bewegung, wobei Jo wie immer die Geschwindigkeit bestimmte.
»Er hat mich zum Hexentritt geführt, was nur bedeuten kann, dass wir bald Besuch bekommen und deshalb heute Nachmittag zum Tor gehen sollten.«
Jo blieb stehen. »Und was machen wir, wenn wir da sind? Konfetti schmeißen und mit Pompons wedeln? Wir wissen doch gar nicht, was ankommt, und das sollten wir zuerst herausfinden.«
»Dabei kann uns der Buchladen aber auch nicht weiterhelfen«, warf ich ein.
> Aber dort versucht zumindest niemand, euch umzubringen. <
»Es muss doch universell anwendbare Rituale geben«, sagte Jo. »Du solltest dir wenigstens ein paar davon aneignen, bevor wir uns auf den Weg machen. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, nur durch mein Amulett geschützt auf die Ankunft eines dunklen Wesens zu warten. Das kann sehr schmerzhaft sein, wie uns die letzten Ereignisse bewiesen haben.«
Ich wusste, dass er recht hatte. Unsere Amulette schützten uns zwar wirksam vor den Dunklen, aber das hieß nicht, dass wir dadurch auch unverletzt blieben. Als wir unseren ersten Dämon auf einem Friedhof vernichtet hatten, waren wir alle drei im Krankenhaus gelandet und durch das Viruswesen, das sich im Körper von Herrn von Kastanienburg eingenistet hatte, waren sowohl Sylvia als auch Jo und Noah verletzt worden. Obwohl eine von Noahs Verletzungen eindeutig auf das Konto des schwarzen Engels gegangen war. Dieser hatte uns im Nebel getrennt und Noah war deshalb in einen spitzen Ast gerannt, vor dem ich ihn nicht hatte warnen können.
»Ich bin Jos Meinung«, erklärte Noah jetzt. »Außerdem ist für die nächsten Tage kein Gewitter angesagt. Und wenn der schwarze Engel es nicht darauf anlegt, uns in die Irre zu führen, muss etwas Mächtiges durch das Tor kommen.«
»In Ordnung.« Ich gab mich geschlagen. »Dann gehen wir nach Schulschluss zum Buchladen.«
»Ach, und Mittagessen fällt aus?«, erkundigte sich Jo und zog die Augenbraue hoch.
»Das La Cuisine wird zu knapp. Ich will so schnell wie möglich zum Tor«, erklärte ich.
Jo schien etwas erwidern zu wollen, doch er ließ es und setzte sich stattdessen wieder in Bewegung. Ich atmete erleichtert auf. Ohne X war das La Cuisine für mich immer ein anderer Ort, aber jetzt, da ich nicht wusste, woran ich war, wäre ein Mittagessen dort einfach zu viel gewesen.
»Wir nehmen uns belegte Brötchen aus der Schulkantine mit«, schlug Noah vor. Jo und ich nickten zur Bestätigung.
Als wir später am Jägerzaun standen, der das kleine Einfamilienhaus mit dem Türmchen umgab, in dem sich der Buchladen befand, bekam ich ein schlechtes Gewissen. Ich war in der letzten Zeit sehr unregelmäßig hier gewesen. Nach der Vernichtung des Viruswesens und Xs Geständnis hatte sich kein weiteres, dunkles Wesen gezeigt und statt, wie vorher, nach jedem Tennistraining zum Buchladen zu fahren, hatte ich mich lieber zu Hause aufs Bett geschmissen und von X geträumt. Auch Noah war nicht mehr nach jedem Fußballtraining hergekommen, sondern hatte mehr Zeit mit seinen Fußballkumpeln verbracht. Einzig Jo war dem Buchladen treu geblieben. Zum einen, weil seine Mutter darauf bestand, dass er auch nach Aufhebung des Hausarrests den Sozialdienst bei Mathilde weitermachte und zum anderen, weil er es liebte, im Buchladen zu sein. Durch seine Gehbehinderung kam Sport für ihn nicht in Frage und Lesen war schon vor Jahren zu einem Ersatz für alles geworden, was er nicht tun konnte.
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