»Ist `ne Weile her, dass wir alle drei hier waren«, sprach Jo meine Gedanken aus.
Ich nickte.
Wir traten in den Garten, warteten bis Noah, der nicht mit uns zusammen im Bus gefahren war, sein Fahrrad an den Zaun gekettet hatte, und folgten dann dem Gartenweg und Jo, der wie selbstverständlich voranging, zum Eingang. Jo öffnete und das Glöckchen über der Tür bimmelte.
»Wie schön, euch alle zusammen hierzuhaben.« Mathilde, die Besitzerin des Buchladens und Hüterin des Wissens, die wie immer hinter dem Empfangstresen saß, sah von ihrem Buch auf, als wir eintraten. Sie legte es beiseite und lächelte uns zu.
»Wir kommen jetzt wieder regelmäßiger«, versprach ich.
> Hört, hört <, murmelte die Wächterin.
Mathilde musterte mich aufmerksam. »Die Zahnspange ist weg und scheinbar ein Wesen auf dem Weg«, stellte sie fest.
»Wir gehen davon aus. Der schwarze Engel hat mich gestern im Traum zum Hexentritt geführt.«
»Dann auf zum Raum der Bücher.« Mathilde griff nach dem Schlüsselring, dessen Schlüssel die Tür zu diesem Raum öffneten, und ging voraus. Der Raum befand sich im Türmchen des Hauses, welches innen jedoch wesentlich höher war, als es von Außen den Anschein hatte. Um den Raum der Bücher zu erreichen, der aus Sicherheitsgründen im Sommer seine Position im Buchladen geändert hatte, obwohl draußen alles beim Alten geblieben war, mussten wir einige der Gänge zwischen den Regalreihen aus dunklem Holz durchqueren. Wie immer galt es dabei, darauf zu achten, nicht über die Buchstapel zu stolpern, die wahllos auf dem Boden vor den Regalen lagen.
»Mathilde, wird es ihnen eigentlich nicht langweilig, in einem Buchladen zu leben?«, erkundigte sich Jo, als wir die schwere Holztür mit dem alten Eisenschloss erreichten, die den Zugang zum Raum versperrte. »Ihn nie zu verlassen, nie reisen zu können? Ich würde mich eingesperrt fühlen.«
»Eingesperrt?« Mathildes Stimme klang verwundert. »Mit tausenden von Büchern um mich herum kann ich reisen, wohin ich möchte, ohne den Buchladen zu verlassen.« Sie nahm den Schlüssel heraus, der sich im Schloss befand, steckte den nächsten hinein und drehte ihn in die entgegengesetzte Richtung des vorherigen.
Jo seufzte theatralisch. »Ich lese selbst gerne, und das wissen Sie, aber ich meinte kein Reisen im übertragenen Sinn.«
»Ich auch nicht.« Mathilde nickte uns zu, zog den letzten Schlüssel aus dem Schloss, öffnete die Tür und verschwand zwischen den Buchreihen.
»Auf geht’s«, sagte ich und trat in den Raum. Jo und Noah folgten mir und schlossen die Tür hinter uns.
Kapitel 4 • Fremde, bekannte Wesen
»Ihr habt schon gehört, was sie gerade von sich gegeben hat, oder?«, erkundigte sich Jo. Er ließ sich auf einen der Stühle fallen, die um den großen, alten Holztisch mit den Leselampen herum standen, der sich in der Mitte des Raums befand. Auf der Tischplatte hatten Generationen von Wächterinnen Kratzer und Brandflecken hinterlassen. Einige davon gingen auf mein Konto. Direkt über dem Tisch hing ein gigantischer Kronleuchter an einer dicken Eisenkette, die bis unter das Dach des Turms reichte. Die Wände des Raums waren fast vollständig mit gefüllten Bücherregalen bedeckt. Nur im oberen Teil gab es Buntglasfenster und gegenüber der Tür einen großen Kamin, dessen Abzugsschacht im Dach verschwand. Während ich mich zu Jo an den Tisch setzte, ging Noah zu einem der Bücherregale, nahm den magischen Karteikasten heraus, der alle unsere Fragen mit Querverweisen zu den sich im Raum befindlichen Büchern beantwortete, und kam damit zu uns.
»Klar haben wir es gehört«, sagte er, stellte den Kasten auf den Tisch und setzte sich ebenfalls. »Und da Mathilde nichts sagt oder tut, ohne dass es einen Grund dafür gibt, denke ich, jetzt ist der Moment gekommen, um herauszufinden, wer sie ist.«
»Ich weiß nicht«, sagte ich unbehaglich und spielte mit meinem Druidenmesser, das ich aus der Schultasche genommen hatte. »Das ist ein bisschen so, als ob wir in ihrem Leben herumschnüffeln würden.«
»Genau das werden wir ja auch tun«, erklärte Jo. »Aber ich stimme Noah zu. Mathilde hätte uns nie diesen Tipp gegeben, wenn sie nicht wollte, dass wir mehr herausfinden.«
> Sie haben recht, also mach schon! < Die Stimme der Wächterin klang aufgeregt.
Unter den auffordernden Blicken meiner Freunde gab ich nach und zog eine Karte aus der Rubrik `allgemein´. »Was für ein magisches Wesen ist Mathilde?«, fragte ich und wir rückten näher zusammen, um die Antwort gemeinsam lesen zu können. »Hüterin aus der Rasse der Buchspringerinnen, siehe `magische Wesen und ihr Ursprung´, Seite 111 und folgende, Regal rechts neben dem Kamin, zehntes Brett, Mitte.«
»Du oder ich?«, erkundigte sich Noah, der wusste, dass ich es ebenso wie er liebte, die Eisenleiter hochzusteigen, die an einer Schiene, an den obersten Regalbrettern befestigt war. Man konnte mit ihr von Regal zu Regal gleiten, fast einmal um den ganzen Raum.
»Geh du. Ich bin heute Nacht bereits einen Berg hochgelatscht.«
Während Noah zur Leiter ging, dachte ich an den schwarzen Engel, der sich mir diesmal nicht richtig gezeigt hatte. Merkwürdig. Ehe ich es verhindern konnte, schob sich das Bild von X in meine Gedanken. So, als hätte es schon die ganze Zeit auf eine Chance gewartet, sich mir zu präsentieren. Die Wächterin schnaufte theatralisch, doch ich versank in Xs grünen Augen und fragte mich, was er jetzt wohl tat, als Noah zum Tisch zurückkam und mir ein Buch entgegenstreckte.
> Schluss mit der Träumerei! <, befahl die Wächterin, doch ich bildete mir ein, dass ihre Stimme ein wenig enttäuscht klang, weil X aus unserem Kopf verschwinden musste.
Schweren Herzens verabschiedete ich mich von dem Bild meines eventuellen Freundes, bei dem Gedanken klopfte mein Herz ein bisschen schneller, nahm das Buch entgegen und sah, dass Noah es schon auf der richtigen Seite aufgeschlagen hatte. »Buchspringerinnen sind unsterbliche Wesen. Sie gehören zur Schwesternschaft der Inspiration und mit jedem neuen Buch wird auch eine Springerin geboren«, las ich. »Die Springerinnen sind aber trotzdem nicht an ihr Geburtsbuch gebunden, sondern können sich frei von Buch zu Buch bewegen, wodurch sie ein enormes Wissen erlangen. Sie leben in geschriebenen Werken und verhelfen den Lesenden zu dem Gefühl, im Buch und beim Geschehen zu sein und die Dinge besser zu verstehen. Wie alle übersinnlichen Wesen unterstehen sie der Regierung des magischen Rats.«
»Es gibt einen magischen Rat? Das ist ja abgefahren. Wo sich der wohl befindet?«, überlegte Jo laut.
»Das können wir später in Erfahrung bringen. Setz es auf die Liste der offenen Baustellen.« Ich zog eine Grimasse. »Für heute haben wir genug zu tun. Ich lese weiter: Als die ersten Tore Luzifers auftauchten und der Rat beschloss, Kinder als Wächter und Wächterinnen zu wählen, um die Tore zu bewachen, stellte sich die Frage, wie man das Wissen vermitteln sollte, das diese benötigten, um ihre Aufgabe zu erfüllen. Ein Teil der Springerinnen meldete sich darauf freiwillig, um den Kindern als Hüterinnen des Wissens zur Seite zu stehen. Um Zwietracht zwischen den Wesen zu vermeiden und das positive Gleichgewicht der Energie im Rat zu erhalten, wurde ihr Angebot abgelehnt. Denn obwohl es den Buchspringerinnen möglich ist, eine menschliche Gestalt anzunehmen, ist es nur den Musen erlaubt, dies zu tun, und sie hüten dieses Privileg eifersüchtig. Da Musen aber nicht das Wissen der Springerinnen haben, kamen sie als Hüterinnen nicht infrage, weshalb sich einige der Springerinnen nicht von ihrem Plan abbringen ließen.
Obwohl sie falsche Pisten legten und magische Schutzwälle benutzten, blieb ihr Tun der Führerin der Schwesternschaft nicht verborgen. Als Seherin des Rats war diese nicht nur mit dem dritten Auge, sondern auch mit der Macht über die Worte ausgestattet. Durch diese Fähigkeiten war sie in der Lage, auch Magie zu durchschauen und viele der Handlungen der Springerinnen vorauszusehen. Für weitere Informationen über die Seherin siehe Seite 120 und folgende, gleiches Buch.«
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