Noah stand auf, um das Buch zu holen, und legte es aufgeschlagen vor mich. Plötzlich hatte ich ein schlechtes Gewissen. »Ich kann auch gehen und die Bücher holen. Du musst nicht immer aufstehen, nur weil es sich so eingebürgert hat.«
»Wieso?«, erkundigte er sich verblüfft. »Das machen wir doch schon immer so. Irgendeine Daseinsberechtigung muss ich ja haben«, fügte er hinzu. »Jo muntert durch blöde Sprüche auf, du führst Rituale durch und ich organisiere die dafür notwendigen Bücher.«
»Ich gebe dir gleich blöde Sprüche«, sagte Jo liebenswürdig.
Ich lächelte, zog das Buch zu mir und las vor, was dort stand: »Dass ein Schutzamulett nicht heiß wird, sondern nur warm bleibt, kann mehrere Bedeutungen haben. 1. Die Gefahr ist vorhanden, aber nicht so stark, dass der Amulettträger die Hilfe des Amuletts benötigt. 2. Die Gefahr geht von nichtmagischen Wesen aus, dann kann das Amulett nur warnen, aber nicht eingreifen. 3. Der oder die Gegner des Amulettträgers haben sich noch nicht für einen Angriff entschieden, doch das kann sich jeden Moment ändern. Wenn es so weit ist, wird das Amulett heiß.«
»Womit wir genauso schlau sind wie vorher«, sagte Jo.
»Wenigstens sind die Möglichkeiten jetzt begrenzt.« Ich klappte das Buch zu. »Ich glaube, die Typen oder was auch immer uns gefolgt ist, hatten es auf X abgesehen, nicht auf mich. Deshalb hat das Amulett nur gewarnt.« Ich zog das Buch mit dem Lichtpeitschenritual zu mir. »Kommen wir zum spannenden Teil.« Ich grinste und lud das nächste Übungsziel ein.
Die folgenden Stunden schickte mir das Buch die verschiedensten Lichtformen. Manche so winzig, dass ich sie kaum sah, andere irre schnell. Die meisten erledigte ich mit einem, maximal zwei Peitschenschlägen und sie zerfielen, sobald ich sie berührte.
»Das Letzte«, sagte ich zu Jo und Noah. »Sonst fällt mir nachher der Arm ab.« Ich wiederholte die Einladung und zuerst geschah nichts, dann erschien eine menschliche Form, die aussah, als bestünde sie aus Lava. Sie kam in geduckter Haltung auf mich zu und plötzlich veränderte sich die Atmosphäre im Raum. Mein Mund wurde trocken. Obwohl ich wusste, dass nichts Dunkles in den Raum der Bücher gelangen konnte, schien von diesem Ziel Negativität auszugehen.
»Spürt ihr das auch, oder bilde ich es mir nur ein?« Ich machte einen Schritt zur Seite und brachte meine Peitsche in Position.
> Es ist nicht wirklich böse, aber gefährlich <, sagte die Wächterin.
»Es wirkt lebendig und schlechtgelaunt.« Jo griff zu seinen Krücken und entfernte sich vom Tisch.
Das Ding aus Lava stand jetzt auf der einen, ich auf der anderen Seite desselben. Als es näherkam, konnte ich die Hitze, die von ihm ausging, spüren. Ich hob die Peitsche, ließ sie knallen, doch das Wesen duckte sich und ich verfehlte es knapp. Sofort holte ich erneut aus und erwischte seinen Arm. Im Gegensatz zu den anderen Zielen löste es sich nicht auf, sondern zuckte nur zusammen.
»Verdammt!«, fluchte Jo. »Wie können wir dir helfen?«
»Gar nicht vermute ich.« Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Bevor ich den nächsten Angriff ausführen konnte, nahm Noah das Buch vom Tisch und brachte sich dann wieder in Sicherheit. Ich ließ die Peitsche knallen und erwischte das Wesen auf der Schulter, kurz vor seinem Hals. Es wankte zwar, regenerierte sich jedoch schnell. Ehe ich reagieren konnte, sprang es über den Tisch und versetzte mir einen Stoß. Ich schrie auf, denn die Berührung fühlte sich an, als wäre ich an ein heißes Bügeleisen gestoßen. Ich warf einen Blick auf meinen Arm. Mein Pullover hatte eine verbrannte Stelle.
> Lass dich nicht ablenken, das will es nur <, zischte die Wächterin.
»Hinter dir«, schrie Jo in diesem Moment.
Ich wirbelte herum und konnte mich gerade noch mit einem Sprung davor bewahren, einen weiteren Stoß zu bekommen. Mir wurde heiß. Das Druidenmesser rutschte in meinen Händen und die Peitschenschnur flackerte. Erschrocken griff ich fester zu. Das Lavawesen schien zu grinsen, obwohl es kein Gesicht hatte, und näherte sich erneut.
»Hey, Feuermann, hierher«, rief Noah und winkte, um die Aufmerksamkeit des Wesens auf sich zu ziehen.
»Ja, oder hierher, such dir was aus«, brüllte Jo aus der anderen Ecke des Raums.
Das Wesen hielt inne und sah scheinbar überrascht von einem zum anderen. Ich nutzte die Gelegenheit, schwang die Peitsche erneut und diesmal wickelte sie sich um seinen Hals. Der Lavamann zuckte, als hätte er Schmerzen, versuchte, sich zu befreien, und zerrte an der Schnur, was mich ein Stück in seine Richtung riss. Erschrocken zog ich an der Peitsche und endlich zerfiel das Wesen in feurige Bestandteile, die keine zehn Sekunden später verschwunden waren.
»Uff«, sagte Jo und ich nickte.
»Das kannst du laut sagen.« Zitternd legte ich das Druidenmesser auf den Tisch und die Peitschenschnur verschwand. Ich schüttelte meinen Arm aus und verzog das Gesicht. Morgen war Muskelkater angesagt, denn die Peitsche war schwer, obwohl sie aus Licht bestand, und das Zerren des letzten Ziels hatte die Schmerzen in den Muskeln noch verstärkt.
»Wir hätten die Folgeseite lesen sollen«, verkündete Noah mit zittriger Stimme. »Da steht, dass das Lavawesen wie ein echter Feind und die höchste Schwierigkeitsstufe der Ziele ist. Außerdem hattest du recht, Christina. Wenn die Lichtpeitsche einmal eingesetzt wurde, kann nur die Wächterin den Gegner damit vernichten.« Er legte das Buch zurück auf den Tisch und kam zu mir. »Was macht deine Verbrennung?«
In dem Moment, in dem er sie erwähnte, spürte ich die Schmerzen im Oberarm. Ich warf einen Blick durch das Loch im Ärmel und zuckte zusammen. Die Haut darunter war rot und spannte.
»Ja, ich glaube, man kann wirklich behaupten, dass es sich wie ein wahrer Gegner verhielt. Ich muss das kühlen. Und wie spät ist es überhaupt?«
»Kurz vor fünf« sagte Jo. »Du hast noch Zeit. Ich habe den Wecker gestellt.«
Ich ging hinüber zu den Vorratsschränken, in deren Nähe sich auch ein Wasserhahn befand, zog den Pullover aus und schöpfte mir kaltes Wasser auf die Brandwunde. Es tat ziemlich weh, aber das Brennen ließ nach. Allerdings nur so lange, wie das Wasser darüber floss.
»Vielleicht gibt es hier im Raum noch etwas anderes, das dir helfen kann«, sagte Noah und zog eine Karte aus dem Karteikasten. »Gibt es im Raum der Bücher ein Mittel, das bei Brandwunden hilft, die durch das Lavawesen der Peitschenübung verursacht wurden?«, fragte er. »Olivenöl, im Regal der Zutaten«, las er gleich darauf laut, »Aber nur, wenn die Wunde nicht offen ist.«
»Ist sie nicht«, erklärte ich und ging zu den Regalen, die sich direkt neben dem Kamin befanden. Hier gab es hunderte von Zutaten, außerdem verschiedene Töpfe, Tiegel, Glasflaschen und andere Utensilien, von denen ich auch nach fast zwei Jahren nicht einmal die Hälfte kannte. Als ich das Öl gefunden hatte, träufelte ich ein wenig davon auf die Wunde. Das Brennen verschwand zwar nicht, aber es ließ eindeutig nach.
Ich kehrte zu Jo und Noah zurück und sah, dass sie den Tisch abgeräumt und alles weggestellt hatten. Die Erfahrung hatte uns gelehrt, dass die Ausführung der Rituale leichter war, wenn keine Unordnung im Raum der Bücher herrschte. Ich griff nach Schultasche und Jacke. Die verbrannte Stelle am Arm tat immer noch weh, aber jetzt war es erträglich.
»Wollen wir?«
Wir verließen den Raum und schlenderten gemütlich durch die Regalreihen des Buchladens zum Eingangstresen.
»Hallo ihr drei, da seid ihr ja«, begrüßte uns Mathilde. »Ich hoffe, ihr habt morgen nichts vor, denn es ist ein starkes Gewitter angesagt.«
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