X sah mich an, als erwarte er noch mehr, doch ich schwieg. »Aha«, sagte er schließlich. »Das mit der heißen Schokolade hatten wir ja schon, was hältst du davon, wenn wir den zweiten Teil ausprobieren und ich dich nach Hause bringe?«
»Oh«, sagte ich erleichtert und enttäuscht zugleich. Er wollte nicht mit mir alleine sein.
»Ich weiß nicht, wann du zu Hause sein musst, und möchte es mir nicht gleich am Anfang mit deiner Mutter verderben«, erklärte er. »Außerdem wollte ich dir auf dem Weg noch meinen Lieblingsplatz zeigen. Zuallererst hätte ich aber gerne deine Handynummer.« Er sah mich fragend an. Ich nannte sie ihm und er speicherte sie direkt in sein Smartphone. »Ich rufe dich später an, damit du meine Nummer auch hast«, versprach er, steckte das Handy in die Jackentasche, hob die Sporttasche auf und legte mir dem Arm um die Schulter. »Komm.«
Schüchtern legte ich den Arm um seine Taille und ein Kribbeln lief durch meinen Körper. Das hier geschah wirklich. Als hätte er es auch gespürt, warf X mir einen Seitenblick zu, lächelte und drückte die Lippen auf meine Schläfe.
»Es ist schön, dir so nah zu sein«, sagte er leise.
Wir bogen um die Ecke und in eine Sackgasse zwischen den Häusern, die mir bisher nicht aufgefallen war. Auf beiden Seiten befanden sich Türen, vor dem toten Ende standen Müllcontainer und ein Motorrad, an dem zwei Helme befestigt waren.
»Hier geht’s übrigens zu meiner Wohnung, nur damit du Bescheid weißt«, erklärte X, wies mit der Sporttasche auf eine der Türen und steuerte auf das Motorrad zu.
»Du fährst Motorrad?«
»Bisher nur eine 80er, ein Leichtkraftrad, aber ich habe vor, das nach meinem achtzehnten Geburtstag zu ändern.« Er sah mich an. »Und? Traust du dich?«
Ich nickte. Wie cool war das denn?
> Cool und gefährlich <, sagte die Wächterin, aber ihre Stimme klang begeistert.
»Ebenso wie Dämonenjagen«, erwiderte ich und wir grinsten beide.
»Die Idee scheint dir zu gefallen«, bemerkte X und strahlte mich an. Als wir bei der Maschine angekommen waren, reichte er mir einen der Helme. »Hier, den wirst du brauchen, aber bevor du ihn aufsetzt ...«
Der Rest des Satzes wurde von meinen Lippen verschluckt, denn ich presste mich an ihn und küsste ihn. Ich war aufgeregt, weil ich noch nie Motorrad oder 80er gefahren war und erleichtert, weil ich ein bisschen Angst vor dem gehabt hatte, was in Xs Apartment hätte passieren können. Aber vor allem war ich verliebt. So verliebt, dass es fast weh tat, ihn nicht zu berühren. Atemlos löste ich mich von ihm. Der Blick, mit dem er mich bedachte, ließ meine Knie weich werden, denn in ihm meinte ich, die gleichen Gefühle zu erkennen. Dieser unglaublich perfekte Junge schien wirklich in mich verliebt zu sein.
»Was ich sagen wollte, ehe du mich auf so wundervolle Weise unterbrochen hast«, begann er und schob mir eine Locke hinter das Ohr. »War, dass du deine Brille absetzen musst, bevor du den Helm aufsetzt.« Er sah mich an. »Mach es am besten gleich, sonst kommen wir hier nicht weg.« Er griff nach seinem Helm und stülpte ihn über. Dann streckte er die Hand aus und ich reichte ihm meine Brille.
Der Helm war eng, fühlte sich aber klasse an. Gewagt und abenteuerlich. X gab mir die Brille zurück und nachdem ich sie aufgesetzt hatte, reichte er mir die Sporttasche. »Die musst du leider auf dem Rücken tragen. Pegasus hat keinen Gepäckträger.« Seine Stimme klang gedämpft.
»Pegasus?« Ich schloss die Knöpfe meiner Jeansjacke.
»Auf diesem Motorrad zu sitzen ist fast wie fliegen«, sagte er und grinste.
Ich verdrehte die Augen, quetschte die Arme mit seiner Hilfe durch die Tragriemen und wurde für einen Augenblick unangenehm an meinen ersten Besuch in der dämonischen Zwischenwelt erinnert. Damals hatte ich eine andere Tasche auf die gleiche Art getragen, um die Hände frei zu haben. Das Gefühl verflog sofort, als X unter mein Kinn griff und den Helmgurt festzog. Die Berührung seiner Finger lenkte mich von jedem anderen Gedanken ab.
»Es gibt nur vier Regeln«, sagte er und stieg auf die Maschine. »Du steigst hinter mir auf und später ab, ohne den Auspuff zu berühren, der wird nämlich heiß. Du hältst dich an mir fest, also Arme um meine Taille. Wenn ich mich in eine Kurve lege, dann lehnst du dich in die Richtung der Kurve, nicht aus ihr heraus, sonst schmieren wir ab.« Er verstummte.
»Und Nummer vier?«
»Hab Spaß.«
Ich konnte sein Grinsen trotz des Helmes sehen und erwiderte es. Ungeschickt kletterte ich hinter ihn und umschlang ihn mit den Armen. Daran konnte ich mich gewöhnen. Schade, dass es der Helm nicht zuließ, den Kopf an seinen Rücken zu legen. X ließ die Maschine an, fuhr langsam aus der Gasse und fädelte sich in den Verkehr. Inzwischen waren die Straßenlaternen angegangen und zogen wie Lichtstreifen an uns vorbei. Ein Gefühl von Freiheit überkam mich und ich wusste, was er mit Fliegen gemeint hatte. Ich fühlte mich mit ihm verbunden und trotzdem wie losgelöst. Es zählten nur er, das Motorrad und der Wind. Als X abbog, wusste ich, wohin er wollte. Vor uns lag der Auepark. X fuhr auf einen Serviceweg, was mit Sicherheit nicht erlaubt war, und durchquerte den Park auf Nebenwegen. Die Blätter der Bäume leuchteten im Licht des hüpfenden Scheinwerfers in allen Rottönen und als wir den weißen Pavillon am See erreichten, der sein Ziel zu sein schien, standen die Sterne am Himmel. X parkte Pegasus und ich glitt von der Maschine. Dabei achtete ich darauf, den Auspuff nicht zu berühren. Ich schälte mich aus der Sporttasche, wartete, bis X die Hände frei hatte, reichte ihm die Brille und nahm den Helm ab. Mein Haargummi löste sich und die Locken fielen mir bis weit über die Schultern. X betrachtete mich wortlos. Er gab mir die Brille zurück, nahm meine Hand und führte mich zum Pavillon. Die Monumentebeleuchtung ging in dem Moment an, in dem wir ihn betraten, und zauberte goldene Reflexe auf den See.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte X, der hinter mich getreten war leise und legte die Arme um meine Taille.
»Warum?«
»Sie werden Pegasus’ Lichter gesehen haben und wir sollten eigentlich nicht hier sein, aber ich wollte dir diesen Platz zeigen, wenn die Beleuchtungen angehen. Ich finde, der Moment ist magisch.«
Ich schmiegte mich wortlos an ihn, betrachtete die erleuchteten Monumente des Parks, die man von hier aus perfekt sehen konnte, und folgte dann den goldgesprenkelten Bewegungen des Wassers. Die ganze Zeit über war ich mir seiner Nähe bewusst. Es fühlte sich an, als wären wir eins. Ohne ein Wort zu sagen, drehte er mich zu sich, nahm mich in die Arme und hielt mich fest. Seine Wärme hüllte mich ein und mein Herz orientierte sich am Schlag des seinen und nahm dessen Rhythmus an. Hätte ich einen perfekten Moment beschreiben sollen, wäre es dieser gewesen.
»Wir müssen los«, sagte X nach einer Weile bedauernd und zeigte auf Lichter, die sich näherten.
Ich erwachte wie aus einem Traum und die Wirklichkeit holte mich ein.
»Wo wohnst du?«, fragte er, während wir zu Pegasus liefen und unsere Helme aufsetzten. Ich sagte es ihm und quetschte mich erneut in die Träger der Sporttasche. Als ich hinter ihm aufstieg, hörte ich das Geräusch von Motoren zwischen den Bäumen.
X lachte vergnügt.
»Fertig?«, rief er und ich umklammerte ihn fester. Als er Gas gab, brach das erste Fahrzeug durch das Unterholz und mein Amulett wurde warm.
Kapitel 7 • Verfolgt
Pegasus schoss nach vorne, noch bevor ich einen Blick auf die Ankommenden werfen konnte. Was verfolgte uns? Dämonen auf Quads? Es musste etwas anderes sein, denn mein Amulett war zwar warm, aber weder glühte noch leuchtete es. Vielleicht waren die Fahrer besessen. Als Pegasus einen unerwarteten Schlenker machte, schrie ich vor Schreck auf und verschränkte die Hände vor Xs Bauch, um den Halt nicht zu verlieren.
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