»Es geht wieder rund«, stellte Jo fest, während wir uns auf einen Tisch zubewegten.
Ich nickte zerstreut, denn ich versuchte, den Mann mit den Sommersprossen im Auge zu behalten und gleichzeitig nirgendwo gegen zu stoßen. Ich wich einem Tisch aus und als ich hochsah, verschwand Sommersprosse gerade aus dem Café.
»Verflixt!«, entfuhr es mir.
»Wir hätten ihn hier eh nicht ansprechen können, ohne Aufsehen zu erregen«, tröstete mich Noah leise.
Wir erreichten einen freien Tisch, zogen unsere Jacken aus und setzten uns.
»Wir haben da ja einige Baustellen«, griff Jo das Thema wieder auf. Ich sah, dass seine Augen leuchteten. Typisch Jo. Und X behauptete, ich sei ein Adrenalinjunkie. »Wer will X an den Kragen? Wer ist der Typ mit den Sommersprossen und was sucht diesen heim? Warum wurde dein Amulett nur warm und was kommt aus dem Tor?«, zählte Jo derweil an den Fingern ab.
»Ich denke, wir konzentrieren uns auf die Baustellen, die wir auch fertigstellen können.« Ich seufzte. »Immer eins nach dem anderen. Wenn ich unser Essen bestelle, frage ich X, wer Sommersprosse ist, und im Buchladen den Karteikasten wegen des Amuletts. Danach übe ich mit der Peitsche. Den Rest müssen wir regeln, wenn wir mehr Informationen haben.«
Die Wächterin nickte zufrieden.
»Was wollt ihr essen?« Ich sah Jo und Noah fragend an.
Als ich kurz danach zum Tresen kam, reichte X gerade zwei Suppenteller an ein Mädchen, das ihn daraufhin mit einem betörenden Augenklimpern bedachte. Ich war mir nicht sicher, ob es das auffordernde Klimpern war oder einfach der Umstand, dass ich das Gefühl hatte, zu X hingezogen zu werden, aber ich wollte nicht warten, bis er hinter dem Tresen hervorkam, und ging ihm entgegen. Wir trafen uns auf halbem Weg und seine Augen strahlten.
»Du hast es eilig.« Er zog mich näher.
»Und du hast mir heute Morgen etwas versprochen«, erwiderte ich mutig.
> Und ich erkenne dich nicht wieder! <, sagte die Wächterin stolz.
X grinste, legte mir einen Arm um die Taille und eine Hand in den Nacken, wo seine Finger anfingen, einzelne Locken aus meinem Zopf zu zupfen. Ich bekam eine Gänsehaut und weiche Knie und schlang die Arme um seinen Hals.
»Habe ich das?«, murmelte er und seine Lippen näherten sich meinem Mund. Als er mich küsste, vibrierte jede Faser meines Körpers und die Empfindungen überrannten mich. Mir wurde heiß, ich konnte ihm nicht nah genug sein und wollte seine Haut berühren. Meine Hände glitten wie von selbst über seinen Rücken. Gerade, als ich sein T-Shirt aus der Jeans ziehen wollte, unterbrach er den Kuss so abrupt, dass mir ein wenig schwindelig wurde.
»Skandal«, sagte er leise und atmete ein paar Mal tief ein.
»Habt ihr kein Zuhause?«, fragte jemand hinter uns. Es klang sowohl neidisch als auch amüsiert.
X ignorierte die Frage. »Habe ich mein Versprechen gehalten?«
Ich nickte atemlos.
Er atmete ein weiteres Mal tief durch, zwinkerte mir zu und gab mich frei. Der plötzliche Abstand zwischen uns fühlte sich an, als hätte ich mich an einem scharfen Papier geschnitten. X schien es ebenso zu ergehen, denn er sah mich eine Sekunde lang überrascht an, ehe er hinter den Tresen zurückkehrte.
»Was wollt ihr denn essen?«, fragte er.
Das Gefühl und der Schmerz verschwanden. Ich räusperte mich und versuchte, niemanden von den Wartenden anzusehen. Mein Gott, war das peinlich! Was war da eben bloß in mich gefahren? Schnell bestellte ich unsere Gerichte.
»X, wer war der Typ, mit dem du dich eben unterhalten hast?«, erkundigte ich mich fast schon beim Gehen.
»Warum?« Er sah mich überrascht an.
Ich zuckte mit den Schultern. »Er kam mir bekannt vor und ich weiß nicht, woher.«
»Da kann ich dir leider nicht helfen.« X lächelte und meine Knie wurden zu Pudding. »Ich kenne ihn nicht. Er ist ins Café gekommen, um nach dem Weg zu fragen.«
Der Rückweg zu Jo und Noah war wie Spießrutenlaufen. Hinter vorgehaltener Hand wurde über mich getuschelt und wenn Blicke wirklich töten könnten, und zumindest die, normaler Menschen, konnten es ja Gott sei Dank nicht, wäre ich bereits nach wenigen Schritten zusammengebrochen. Als ich an unseren Tisch zurückkehrte, sah Jo mich demonstrativ mit offenem Mund an und Noah grinste, aber keiner von beiden kommentierte den Vorfall.
»X kennt Sommersprosse nicht«, sagte ich, während ich mich setzte. »Er ist wohl nur ins Café gekommen, um nach dem Weg zu fragen.«
»Finde ich merkwürdig, du nicht?«, erkundigte sich Jo. »Ich meine, ein Typ, der mit dämonischen Wesen Kontakt hat, kommt ausgerechnet in dieses Café und fragt genau den Jungen nach dem Weg, dessen Leben in Gefahr ist?«
»Doch«, gab ich zu. »Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir weder wissen, wer er ist, noch, wo wir ihn finden.«
»Eine Baustelle nach der anderen.« Noah lächelte mir aufmunternd zu.
»Zumindest bleibt Vulkanchen jetzt nah am Mann und kann X besser schützen«, sagte Jo und ich wurde rot.
»Ist eine Fortsetzung von vorhin geplant?«, fragte er, als das Tischlämpchen etwas später leuchtete und damit verkündete, dass unser Essen zum Abholen bereit war. »Dann setze ich die Sonnenbrille auf.«
Ich streckte ihm die Zunge raus und machte mich erneut auf den Weg zum Tresen.
»Wo soll ich dich nachher abholen?«, erkundigte sich X, sobald ich vor ihm stand, und stellte unsere Teller auf ein Tablett.
»An der Bushaltestelle bei der Eisdiele?« Ich legte das Geld auf den Tresen, sah ihn abwartend an und wurde das Gefühl nicht los, dass alle im Café uns anstarrten.
Er nickte lächelnd. »Ich bin um halb sechs da und küsse dich jetzt nicht, weil ich nicht weiß, was dann als Nächstes passiert.«
Ich kicherte.
»Diesmal bin ich pünktlich«, versprach ich und zog mit meinem Tablett von dannen.
Als Jo und ich später im Bus saßen, Noah fuhr wie immer mit dem Rad zum Buchladen, sah er mich mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Dich hat es ganz schön erwischt, oder?«
»Dich doch auch.« Ich spielte auf seine Gefühle für Sylvia von Kastanienburg an.
Jo zuckte mit den Achseln. »Aber du bist mir mehrere Schritte voraus.«
Sobald wir den Buchladen betraten, Noah hatte an der Bushaltestelle auf uns gewartet, schnappte Mathilde sich ihre Schlüssel und wir folgten ihr zum Raum der Bücher.
»Hast du es gestern noch rechtzeitig geschafft?«, erkundigte sie sich, während sie die Schlüssel, einen nach dem anderen, ins Schloss steckte und in alle möglichen Richtungen bewegte und drehte.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich war etwas zu spät. Heute muss ich pünktlich los, damit das nicht zur Gewohnheit wird. Außerdem möchte meine Mutter, dass ich um sechs zuhause bin.« Ich verdrehte die Augen.
»Soll ich euch rechtzeitig Bescheid geben?«
»Das ist nicht nötig, Mathilde, diesmal passen wir auf.«
Im Raum der Bücher setzten wir uns um den Tisch.
»Womit fangen wir an?«, erkundigte sich Jo und lehnte seine Krücken an den Stuhl neben sich.
»Lust hätte ich, die Peitsche weiter auszutesten, aber ich denke, wir sollten zuerst rausfinden, warum mein Amulett nur warm und die ganze Zeit über nicht heiß geworden ist.«
> Jetzt tut sie so, als wäre sie verantwortungsbewuss t<, sagte die Wächterin.
»Wie man’s macht, ist es falsch«, erwiderte ich, nur für ihre Ohren bestimmt, und grinste. Dann beugte ich mich über den Karteikasten, der noch auf dem Tisch stand, entdeckte eine Rubrik `Schutzamulette´, die mir vorher nie aufgefallen war, zog eine Karte und fragte: »Was ist der Grund, wenn Amulette trotz Gefahr nur warm werden, aber nicht heiß?«
Die Antwort erschien sofort: »Buch `Was du schon immer über Schutzamulette wissen wolltest´, Seite zehn, Regal rechts neben der Tür, 4. Brett von unten.«
Читать дальше