„Was haben denn die Grünen dazu gesagt?" bohrte Petersen weiter.
„Die hat man damit geködert, dass man einige behindertenfreundliche Wohnungen eingeplant hat. Ich sage nur peinlich! Nur die Frau Dunker hat dagegen gestimmt. Das sind doch "Bauernfängertricks“, redete Onno sich jetzt in Rage.
„So was würde ich öffentlich nicht sagen. Du weißt ja, der Beamte muss sich zurückhalten, das gilt besonders auf so ‘ner kleinen Insel. Du musst ja hier als Polizist irgendwie mit allen klar kommen. Das ist in Bremen bestimmt anders.“
„Stimmt“, warf Petersen ein, „wir haben in Bremen sogar Demos in voller Uniform gemacht."
Ihre Unterhaltung wurde jetzt durch das Läuten des Telefons unterbrochen. Onno nahm ab. Es war die Direktion Wilhelmshaven, die die Graffiti-Aufnahmen an den Waggons der Inselbahn von Petersen ausgewertet hatten. Es wurde eine Übereinstimmung mit Tags an einer Gesamtschule in Wilhelmshaven festgestellt. Nach Beendigung des Gesprächs mit Wilhelmshaven schlug Petersen vor, zu überprüfen, ob eine Klasse aus der besagten Schule gerade eine Klassenfahrt
auf der Insel macht.
Onno nickte anerkennend: „Man merkt, dass du mal Ermittler warst. Jetzt trinken wir aber erst einmal „Tass Tee“ und dann machen wir uns an die Arbeit."
Dieses „Tass Tee“, was Onno da immer raus ließ, erinnerte Petersen an die Werbung: „und was is‘ mit Tee?“
Er hatte immer vermutet, dass es sich um ein Klischee handelte. Dem war aber offensichtlich nicht so......
Nach der Teezeremonie telefonierten sie die Schullandheime, die es auf Wangerooge gab, ab. In der Jugendherberge, die sich tatsächlich noch im Westturm befand, wurden sie fündig. Hier war, im Rahmen einer Projektwoche, eine 9. Klasse der IGS Wilhelmshaven einquartiert.
„Na du Superermittler, das hast du nun davon, dann fahr mal schön in den Westen“, flachste Onno Petersen an.
„Das mach ich auch! Ich wollte da sowieso mal hin, ob das da noch so ist, wie zu meiner Schulzeit“, überraschte Petersen Onno.
Er zog seine Segeljacke über die Uniform, schwang sich auf das Dienstfahrrad und radelte gen Inselwesten. Nachdem er das kleine Wäldchen am Inselfriedhof durchfahren hatte, musste er nun auf dem Deich weiterfahren. Hier pfiff ihm ein eisiger Westwind entgegen. Er musste kräftig treten, um gegen den Wind anzukommen. Je näher er dem Westturm kam, desto besser konnte er erkennen, dass es einen modernen Vorbau gab, der zu seiner Zeit noch nicht da war. Das „Westturm Café“ machte einen erbärmlichen Eindruck. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen und innen drin sah es äußerst verwahrlost aus. Er bog nun direkt auf das Grundstück der Jugendherberge ein, öffnete seine Segeljacke, damit man die Uniform erkennen konnte. Der Herbergsvater begleitete ihn zu dem Gruppenraum im neuen Anbau, in dem sich die 9. Klasse aus Wilhelmshaven befand. Sein Eintreten in den Gruppenraum löste bei den Schülern größtes Erstaunen aus. Er steuerte auf eine etwas ältere, aber durchaus attraktive Frau zu:
„Sind Sie hier die Klassenlehrerin?“ begann er.
„Ja, ist etwas vorgefallen?“ fragte die Lehrerin sofort.
„Ich würde Sie erst einmal gern unter vier Augen sprechen“, fuhr Petersen fort.
Sie gingen in eines der Gruppenleiterzimmer. Petersen stellte sich kurz vor und konfrontierte die Lehrerin mit den Fotos von den bemalten Eisenbahnwaggons. Die Lehrerin wirkte leicht verlegen und nervös. „Doch die Symbole oder auch Tags wie man in der Fachsprache sagt, kommen mir bekannt vor. Es gibt zwei Jungs, in deren Heften habe ich schon einmal solche Zeichen gesehen. Da die Schüler im Moment schriftliche Aufgaben haben, schlage ich vor, dass wir mal rumgeh'n."
Soviel Entgegenkommen hatte Petersen von einer Lehrerin nicht erwartet. In Bremen schlug ihm immer sehr viel Skepsis von lehrerseite entgegen, wenn er die Pädagogen mit möglichen Drogendelikten ihrer Schüler konfrontierte. Es entspann sich dann immer eine Grundsatzdiskussion über Datenschutz und darüber, ob die Polizei überhaupt im schulischen Raum tätig werden dürfte. Gemeinsam gingen sie zu den Arbeitsgruppen der Schülerinnen und Schüler, die eine Präsentation zum Thema Nationalpark Wattenmeer erarbeiten sollten. Und tatsächlich, bei zwei Schülern entdeckten sie dieselben Zeichen wie auf den Waggons. Unvorsichtigerweise hatten sie ihre Tags auf die Tischoberfläche gemalt. Petersen bat beide Schüler mit in den Gruppenleiterraum und konfrontierte sie mit den Bildern. Beide konnten dem Druck, den er aufbaute, nicht lange standhalten. Letztlich gaben sie dann zu, dass sie in einer Freizeitphase am Vormittag aus der Herberge geflüchtet waren und die Waggons am Westanleger besprüht hatten. Petersen protokollierte die Aussagen, nahm die Personalien der Schüler auf und fotografierte die Tischplatte. Er war mit sich sehr zufrieden, nur die völlig verstörte Lehrerin tat ihm leid.
„Wenn Sie noch Platz in ihrem Programm haben, dann kommen Sie mit Ihrer Klasse mal auf der Polizeistation vorbei. Wir beantworten dann Ihre Fragen. Aber nur wenn Sie Lust haben und es Ihnen passt?“
„Da komm ich drauf zurück“, antwortete die erleichterte Lehrerin.
Sie verabschiedeten sich und Petersen stieg wieder aufs Fahrrad, aber diesmal schob ihn der Rückenwind gewaltig an. Auf dem Deich wurde er von einem bärtigen Mann mit einem E-Bike überholt:
„Moin, Moin Sheriff“, rief dieser in den Wind.
„Jetzt habe ich aber meinen Spitznamen auf der Insel weg“, brummte Petersen in sich hinein.
Es war schon irgendwie grotesk, dass er sich über seinen ersten Fahndungserfolg auf Wangerooge freute. Im Verhältnis zu dem, was er in Bremen gemacht hatte, geradezu lächerlich. Zurückgekehrt in die Dienststelle, berichtete er Onno von seinem Erfolg.
„Das schraubt unsere Aufklärungsrate in die Höhe. Wir werden bestimmt belobigt“, frotzelte Onno. „Du bist heute Abend bei Frieda und mir zum Essen eingeladen. Danach machen wir unseren Bierabend. Ich habe einige Fragen zu deinem Prozess."
Petersen willigte ein, aber von seinem Stolz war jetzt nicht mehr viel übrig geblieben. Die Niedergeschlagenheit hatte ihn wieder eingeholt. Die Ereignisse von Bremen saßen ihm wieder
im Nacken.
Gegen 19 Uhr trudelte er bei den Siebelts ein, nicht ohne für Frieda einen Blumenstrauß besorgt zu haben. Diesmal gab es Rinderbraten mit Rotkohl. Petersen schmeckte es außerordentlich gut, obwohl er innerlich sehr angespannt war. Würden die Ereignisse in Bremen sein Verhältnis zu Onno belasten? Bevor es überhaupt zu dem Gespräch über die Bremer Vorkommnisse kam, konfrontierte Onno Petersen mit einer Neuigkeit:
„Auch wenn mir das jetzt sehr unangenehm ist, Lars, ich bekomme den Platz für meine Kur schon in einer Woche."
Petersen war wie vor den Kopf geschlagen. „Was bedeutet das jetzt für mich?“ fragte er sichtlich verunsichert.
„Nun mal langsam! Ich habe schon mit Wilhelmshaven gesprochen. Du wirst ca. eine Woche allein sein. Ich sehe darin kein Problem, weil du die Dinge hier beherrscht. Man merkt schon, dass du ein erfahrener Polizeihase bist. Ich hab‘ das Wilhelmshaven auch genauso gesagt. Nach einer Woche bekommst du Unterstützung durch einen Polizeianwärter. Das ist zwar nicht das Gelbe vom Ei, aber du kannst die Bereitschaften aufteilen. So und ab dem 15. Dezember kommt dann sowieso die Aufstockung für die Weihnachtsferien. Vielleicht bin ich dann auch schon wieder da."
Der Schrecken stand Petersen im Gesicht geschrieben. Er traute sich den Job schon alleine zu, aber 24 Std. Bereitschaft war schon eine Hausnummer. Er hatte sich gerade an den gemütlichen Dienstablauf mit Onno gewöhnt, zumal er mittlerweile große Sympathie für diesen Inselpolizisten empfand.
„Ich brauch erst mal ‘nen Schnaps“, unterbrach jetzt Petersen die Stille.
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