Durch die Kapitän-Wittenberg-Str. gelangten sie zur Polizeistation Wangerooge, Charlottenstraße 9, ein rotge-klinkertes zweigeschossiges Haus. Das Polizeischild leuchtete in die Nacht. Eine orangefarbene Notrufsprechanlage hing links neben der Eingangstür. Vor der Eingangstür standen Petersens Koffer. Onno Siebelts schloss den Eingang auf. Sie brachten die Koffer ins Obergeschoss. Hier befand sich eine möblierte 2 Zimmer Wohnung mit Küche und Bad, die jetzt erst einmal die Wohnstatt von Petersen sein würde. Auf dem Flur befanden sich noch 2 Einzimmerappartements für Kollegen, welche die Wache in der Saison verstärkten, so erklärte Onno Siebelts die Raumaufteilung.
„So Lars, ich lass dich jetzt alleine. Wir treffen uns morgen um 9 Uhr unten in der Dienststelle. Dort bereden wir alles weitere. Gode Nacht, slop god!“ Der gute Nachtgruß auf Plattdeutsch kam Petersen sehr bekannt vor. Seine Großeltern sprachen häufig platt, so dass er die meisten Redewendungen verstehen konnte.
Er schaute sich um. Die Wohnung machte einen tristen, aber sauberen Eindruck. 60-er Jahre Ambiente, schlichte Furnier-holzschränke, das Sofa durchgesessen. An den Wänden hingen Bilder mit maritimen Motiven. Er war zu müde, um jetzt Trübsal zu blasen und sein Schicksal zu bedauern. Er bezog sein Bett, streifte sich die Kopfhörer über und hörte ohrenbetäubend ACDC. Dabei schlief er ein.
Als ihn sein Handy am nächsten Morgen mit dem Gitarrenriff von Smoke on the Water weckte, wurde sich Petersen angesichts der tristen möblierten Umgebung, seiner trostlosen Lage wieder bewusst. Er hatte noch nicht richtig ausgepackt, geschweige denn für das Frühstück eingekauft. In einer halben Stunde musste er unten in der Dienststelle antreten. Auf keinen Fall wollte er Onno Siebelts enttäuschen. Den Empfang gestern empfand er als äußerst kollegial, wenn nicht sogar als liebevoll. Beim Aufstehen sah er auf einem Kleiderbügel an diesem hässlichen Schrank seine neue Uniform hängen. Als Zivilfahnder hatte er seit Jahren keine Uniform mehr getragen. Zwischen Bremen und der Polizeidirektion Wilhelmshaven, die für den Polizeiposten Wangerooge zuständig war, musste erst einmal geklärt werden, in welcher Uniform er durch Wangerooge stolzieren sollte. Formal war er noch bremischer Beamter, sollte aber seinen Dienst in Niedersachsen ableisten. Wilhelmshaven bestand auf der niedersächsischen Uniform, die sich ja nur durch das Länderwappen von der bremischen unterschied. Widerwillig zog er die Uniform an, sie passte ganz gut, obwohl die Hose reichlich eng ausfiel, was sicherlich auf seinen Bauchansatz zurückzuführen war. Er hatte seine Maße vor einer Woche nach Wilhelmshaven durchgegeben. Das hatte schon mal geklappt!
Er musterte sich im Spiegel. Seine halblangen, etwas wirren Haare, wurden von der Uniformmütze nicht ganz bedeckt. Auch egal, dachte er. Auf keinen Fall wollte er die bereitliegende Wollmütze, die er schon bei Onno auf dem Bahnhof bewundern durfte, aufsetzen. Er empfand sie als irgendwie deppig.
Langsam ging er die Treppe zum Revier hinunter. Onno schien noch nicht da zu sein. Er schloss die Bürotür auf und sah in ein gemütliches Büro mit drei Schreibtischen und drei PCs. Wie man es aus vielen Fernsehserien kannte, war der Bürobereich mit einem Tresen aus hellem Holz abgetrennt, so dass der Publikumsverkehr von den Schreibtischen getrennt war. An den Wänden hingen ein großer Lageplan von der Insel und mehrere Nachdrucke von maritimen Motiven, die wohl von Ole West Bildern stammten. Neben dem Hauptbüro lag eine Art Besprechungszimmer, das nur mit Regalen und einem Besprechungstisch mit 4 Stühlen ausgestattet war. In diesem Moment ging die Tür auf und Onno kam mit einem kräftigen „Moin, Moin“ auf den Lippen in den Raum. Er hatte eine große Brötchentüte in der Hand.
„So mien Jung, jetzt wird erst mal gefrühstückt“, brummte er in den Raum.
Während des sehr ausgiebigen Frühstücks, erläuterte Onno die groben dienstlichen Abläufe. Petersen erinnerte sich an die Worte von Frieda Siebelts am gestrigen Abend. Sie sprach von 24 stündiger Bereitschaft. Onno schien die Besorgnis im Gesicht von Petersen zu bemerken.
„Wenn keine Saison ist, passiert hier kaum etwas. Die Insulaner hängen allerdings am Brett aufeinander und dann kann es schon mal in den Kneipen rumsen. Aber in der Regel holen sie uns nicht und wenn, dann wird die Anzeige am nächsten Morgen wieder zurückgezogen. So ist das hier! Manchmal kann es Ärger mit den Handwerkern vom Festland geben, aber auch das hält sich in Grenzen.“
Petersen schaute etwas beruhigter in Onnos Gesicht. Den Ausdruck Brett, der ja wohl ein anderes Wort für Theke sein sollte, kannte er aus Bremen nicht. Onno fuhr mit seinem Vortrag fort: „In der Saison kommen dann zwei bis drei zusätzliche Beamte vom Festland, um uns zu unterstützen. Da geht hier natürlich die Post ab. Randale in Kneipen, Drogendelikte, freilaufende Hunde, Fahrradunfälle und Schulklassen, die von ihren Lehrern nicht beherrscht werden. Also der ganze Kleinscheiß, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Na ja, Kleinscheiß ist das ja nicht alles“, warf Petersen ein, „über die Drogensachen musst du mir später mehr erzählen. Ich war nämlich lange Zeit in Bremen als Drogenfahnder eingesetzt.“ So jetzt ist es raus, dachte Petersen. Was wohl jetzt in Onno vorgeht? Drogenfahnder, Mafia, Korruption?
Aber Onno war nichts anzumerken.
„Hier liegt das Reviertagebuch, schau dir das in Ruhe an“, fuhr er fort, „Diensthandy und zwei digitale Funkgeräte haben wir auch.“
Während er das sagte, ging er an einen Blechschrank, schloss ihn auf und händigte Petersen die Dienstwaffe aus.
„Ich brauch dir dazu ja nichts zu sagen. Du bist ja lang genug im Geschäft.“
Petersen nickte. War das eine versteckte Warnung oder überinterpretierte er jetzt die letzte Äußerung von Onno. Der aber machte weiter im Text, indem er ihn auf die für die Polizei wichtigen Telefonnummern der Insel hinwies. Freiwillige Feuerwehr, Krankentransporte, Ärzte, Gemeinde usw.
„So, ich habe dich jetzt genug vollgelabert. Ich würde vorschlagen, du gehst jetzt auf deine erste Streifenrunde, machst dich mit der Insel vertraut. Zwischendurch werde ich dich mal anfunken, damit wir wissen, ob alles funktioniert und ob du die Technik auch beherrscht. Einkaufen kannst du natürlich nebenbei auch.“
Bei den letzten Worten grinste Onno Petersen freundlich an.
Petersen verabschiedete sich und nahm Kurs auf die Zedeliusstraße, der Hauptstraße Wangerooges.
Es waren kaum Menschen zu sehen. Viele Lokale waren augenscheinlich geschlossen. Nur das „Café Treibsand“ hatte geöffnet. Auf einer Tafel stand: Hier immer Bundesliga-Live! Für Petersen eine wichtige Information. In Bremen war er regelmäßig ins Stadion gegangen. Das würde ihm fehlen. Nun hatte er das „Café Pudding“ erreicht, welches auch geschlossen hatte. Das Café war ein Rundbau, der auf einem alten Bunker aus dem 2. Weltkrieg stand. Auf diesem Bunker war einmal eine Funkmessantenne angebracht, einer Vorläufertechnik des heutigen Radarsystems. Beim Anblick des „Café Puddings“ kam ihm die Redewendung „einmal um den Pudding gehen“ in den Sinn. Der Wind pfiff mächtig kalt aus dem Durchgang zur Strandpromenade. Er musste seine Dienstmütze festhalten. Da war er nun, der freie Blick auf Strand und Nordsee. Die Wellen hatten Schaumkronen, was immer ein Zeichen für erhöhte Windstärken war. Bei seiner Sportbootführerscheinprüfung musste er eine Frage nach den Schaumkronen beantworten. Mit einigen Kumpels hatte er regelmäßig Segeltörns auf Charterbooten unternommen.
„Lars, bitte kommen“, quäkte es aus seinem Funkgerät.
„Ja, Onno, bin auf der Promenade“, antwortete Petersen. „Okay, das klappt ja gut. Hier ist gerade der Spediteur. Er will einen Gitarrenverstärker für dich bringen. Ist das okay?"
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