Langsam verspürte er das Bedürfnis auch ein Bier zu sich zu nehmen. Die Handwerkerrunde unter Deck war schon beim vierten Bier angelangt. Er hätte jetzt durchaus Lust gehabt, sich dazu zu setzen und sich vollzuschütten, aber er konnte unmöglich Onno Siebelts auf dem Bahnhof Wangerooge mit einer Fahne gegenübertreten. Er hatte nur kurz mit dem Kollegen telefoniert, um die Modalitäten der Anreise zu klären. Dass dieser Mann durch und durch Ostfriese war, konnte man schon am Telefon spüren. Er musste mit einer gehörigen Portion Skepsis rechnen, wenn ein Beamter aus einer Großstadt mit einem „Diszi“ an den Hacken, auf die Insel versetzt wurde. Man stelle sich die Szene vor, er würde, zugedröhnt mit einigen Flaschen Bier, auf den Bahnsteig torkeln. Nein, diese Szenerie sprach eindeutig gegen das Bier. Das Schiff verlangsamte jetzt sehr auffällig seine Geschwindigkeit, obwohl es noch mindestens 2 Seemeilen bis zum Hafen waren. Petersen starrte zum Heck raus aufs Wasser. Tatsächlich, das Schiff bewegte sich nicht mehr. Sie waren aufgelaufen. Mit einem Blick voraus und achterraus über das Heck vergewisserte er sich, dass die „Wangerooge“ sich mitten im Fahrwasser befand. Er erinnerte sich an einen Artikel im Weser-Kurier, in dem von der Forderung des Wangerooger Bürgermeisters nach einer Vertiefung der Fahrrinne die Rede war. Anlass zur Sorge bestand nicht. Petersen beobachtete am Lauf des Wassers im Verhältnis zur roten Backbordfahrwassertonne, dass auflaufend Wasser war. Eine Übernachtung im Wattenmeer war nicht zu befürchten. Das sich selbst auferlegte Bierverbot hätte sonst auch nicht durchgehalten werden können. Ersatzweise entschloss er sich vom Schiffskiosk auf dem Hauptdeck einen Kaffee zu holen. Nach etwa zehn Minuten setzte sich das Schiff wieder in Bewegung. Die Hafeneinfahrt war jetzt klar zu erkennen, auch die Waggons der Inselbahn mir ihrer blauen Bemalung waren auszumachen. Das Schiff drehte im Hafenbecken und legte am vorgesehenen Platz an. Nachdem die Gangway herunter-gelassen war, verließen, leicht schwankend, die Handwerker als erstes das Schiff. Es folgte Petersen in gebührendem Abstand. Er hatte keine Lust auf Unterhaltung, deshalb stieg er auch in den letzten Waggon der Inselbahn ein. Hier war er für sich. Die Verladung der Gepäckcontainer dauerte nur sehr kurz, so dass die Inselbahn relativ schnell ihren Weg durch die Salzwiesen des Deichvorlandes suchen konnte. Der Westturm war nun deutlich zu erkennen. Sofort bemerkte Petersen den modernen Vorbau, dieser war während seines Klassen-ausfluges noch nicht da gewesen. Da es langsam dunkel wurde, kreiste auch schon das rote Licht des neuen Leuchtturms über die Landschaft, ein wichtiges Seezeichen für den Großschifffahrtsweg in der Deutschen Bucht. Mit einem Pfeifen der Lokomotive fuhr der Zug durch den Deichschart zum Bahnhof Wangerooge. Normalerweise standen bei der Ankunft des Zuges in der Saison viele Pensionswirte mit ihren Bollerwagen auf dem Bahnsteig, um ihre Feriengäste in Empfang zu nehmen. Heute Abend war es anders, gähnende Leere. Niemand wurde anscheinend erwartet. Petersen nahm seinen Gitarrenkoffer vom Sitz und stieg aus dem Waggon und bewegte sich in Richtung Gepäckcontainer, um seine Koffer abzuholen. Aus der Dunkelheit des Durchgangs zum Bahnhofsvorplatz löste sich jetzt ein kleiner untersetzter Mann mit deutlichem Bauchansatz und ging auf Petersen zu. Er trug eine Wollmütze, ähnlich einer Skimütze, mit der Aufschrift Polizei. Petersen hatte solche Mützen, die er absolut albern fand, auch schon in Bremen bei einigen Kollegen gesehen.
„Kollege Petersen?" sprach ihn der Mann an. Er nickte. „Onno Siebelts, herzlich willkommen auf Wangerooge!“ Sie schüttelten sich die Hände.
„Geben Sie mir mal Ihre Gepäckscheine. Ich lasse das Gepäck gleich von Bodo in die Charlottenstraße bringen.“ Onno Siebelts gab die Scheine auf dem Bahnhofsvorplatz einem bärtigen Mann, der vor einem lilafarbenen E-Karren stand. Seine Schirmmütze war mit Abzeichen übersät. An dem E-Karren war ein HSV-Aufkleber zu erkennen.
„Das fängt ja gut an“, murmelte Petersen.
Nachdem die Gepäckfrage geklärt war, nahm Onno Siebelts seinen Kollegen zur Seite.
„Ich heiße Onno! Als Kollege duzt man sich hier.“
„Lars, einverstanden“, entgegnete Lars Petersen mit einem Gefühl der Erleichterung. Sie gingen jetzt erst einmal schweigend die Zedeliusstraße hinauf, am alten Leuchtturm vorbei, in Richtung Ortsmitte. Nach einigen Minuten durchbrach Onno Siebelts das Schweigen:
„Ich wohne nicht mit meiner Frau auf dem Revier. Wir haben ein kleines Haus in der Friedrich-August-Str. Du hast also in deiner Dienstwohnung über dem Revier sturmfreie Bude.“ Petersen grinste und Onno Siebelts konnte sein schelmisches Lachen nicht unterdrücken.
„So, jetzt kommst du aber erst einmal mit zu uns nach Hause, meine Frau hat für uns gekocht.“ Ohne dass Petersen etwas sagen konnte, bogen sie in die besagte Friedrich-August-Str. ein. An der Straßenecke befand sich eine Kneipe, die auch schon geöffnet war. Das grüne Jever Schild war erleuchtet und über der Eingangstür war der rotbeleuchtete Schriftzug „Zum Störtebeker“ erkennbar. Ungefähr vier bis fünf Männer saßen an der Theke. Durch das geöffnete Oberlicht der Eingangstür konnte man Hey Joe von Jimi Hendrix hören.
„Nicht schlecht“, dachte sich Petersen.
„Lars“, Onno Siebelts unterbrach das Schweigen, „du musst mir nicht erzählen, warum du hierher versetzt worden bist. Für mich bist du einfach nur ein Kollege, sonst nichts. Mein Vorgesetzter hat nur wenig erzählt.“
Petersen war auf diese Situation vorbereitet. Er hatte sich immer wieder überlegt, wie er mit etwaigen Fragen nach seinem Vorleben umgehen sollte. Nach seinem Selbstverständnis hatte er nichts Unrechtes getan und wollte auch so auf die Fragen reagieren. Ihm war schon klar, dass dies der sympathische Versuch war, ihm etwas zu entlocken. Er konnte Onno Siebelts versteckte Frage nachvollziehen, denn sein Kollege hatte ein Recht darauf zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. Für Polizeibeamte war das Vertrauen in Kollegen eine Grundvoraussetzung für eine erfolgreiche Arbeit. Das Fehlen dieses Vertrauens hatte er in Bremen schmerzvoll erfahren müssen.
„Onno, ich werde dir alles erzählen und all deine Fragen beantworten. Ich habe damit kein Problem. Es gibt nichts zu verschweigen.“ Onno sah ihn erschrocken an.
„Ich wollte dich nicht nötigen, schon gar nicht so kurz nach deiner Ankunft.“
„So ist das bei mir auch nicht angekommen. Lass mir etwas Zeit! Ich glaube die Sache sollten wir bei einem schönen Bier besprechen, wenn die Gelegenheit günstig ist.“ Onno war erleichtert:
„Jau, so machen wir es!“
Sie waren vor einem kleinen gepflegten Haus mit rotem Klinker angekommen. Der Vorgarten machte einen sehr akkuraten Eindruck. Onno Siebelts öffnete die Haustür.
„Komm rein in die gute Stube!“
Eine Tür zum Flur öffnete sich und eine große schlanke Frau mit etwas strengem Gesicht kam zum Vorschein.
„Moin Herr Petersen, ich bin Frieda Siebelts!“ Sie streckte Petersen ihre Hand entgegen.
„Moin, Moin“, entgegnete dieser. Dieses norddeutsche Moin, Moin war ihm auch aus Bremen geläufig. Die meisten Kollegen begrüßten sich so.
„Ich bin heilfroh, dass mein Mann jetzt Unterstützung bekommt. Letztlich ist das ein 24 Stunden Job auf der Insel, vor allem in den Monaten, wo Onno allein ist“, fuhr Frieda Siebelts fort. Onno unterbrach sie:
„Nun hör auf Frieda, sonst läuft uns Lars noch wieder weg. Der denkt doch, dass er hier ‘nen schönen Urlaub machen kann. Außerdem solltet ihr euch auch duzen. Das macht vieles einfacher!“
Petersen und Frieda schüttelten sich noch mal die Hände und dann wurde gegessen. Frieda hatte ein rustikales norddeutsches Essen vorbereitet, Labskaus mit roter Bete, Spiegelei, sauren Gurken und Matjes. Petersen verschlang das Essen. Er hatte seit heute Morgen nichts mehr gegessen. Frieda Siebelts interpretierte den Appetit von Petersen zu Recht als Kompliment für ihr Essen. Das Eis war gebrochen. Nach dem Essen gab es Bier und Schluck. Langsam spürte Petersen auch die Wirkung des Alkohols. In ihm drängte sich die Frage auf, was wohl passieren würde, wenn jetzt jemand 110 auf Wangerooge wählen würde. Er behielt diese Frage aber für sich, obwohl er befürchtete, dass diese Situation sich nicht vermeiden ließe. Pappsatt und ziemlich abgefüllt, verließen Onno und Petersen das Haus Siebelts, nicht ohne, dass Petersen sich herzlich bei Frieda Siebelts für die Bewirtung bedankte.
Читать дальше