1 ...6 7 8 10 11 12 ...16 »Wie? Du willst mir sagen, dass du eine Horde wild gewordener Schüler bändigen konntest?«
»Genau das! Es war nicht einfach, aber ich habe gekämpft wie ein Stier und mich am Ende durchgesetzt!« Dobler wuchs nach seinem letzten Satz bestimmt zwei Zentimeter.
»Dann muss ich mich vor dir ehrfürchtig verbeugen«, gab Laug sarkastisch zurück. »So viel Heldentum muss gebührend geachtet werden.«
»Was soll das heißen? Zweifelst du an meinen Worten?«
»Genau das! Schau dich doch an! Wie willst du Schüler abwehren, die einen halben Meter größer sind als du?«
»Idiot«, schimpfte Dobler. »Trink dein Bier, dann wirst du verträglicher.«
Genau das hatte Laug jetzt vor. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und setzte den Weg zur hinteren Turnhalle fort.
Der futuristische Neubau lachte ihn schon von weitem an – vielmehr das, was sich darin verbarg. Sein Durst siegte auch über seine Vorsicht, unbemerkt dort anzukommen. Zielstrebig trat er auf die Tür zu, sperrte auf und ging hinein. Die Ruhe, die ihm in Inneren entgegenschlug, war eine Wohltat. Schnell eilte er durch den langen, schmalen Gang, der zu seinem Leidwesen an der äußeren Glaswand zum Sportplatz entlang verlief, so dass die Schüler ihn beobachten konnten. Die Sonne verstärkte die Hitze unter dem Glas. Laug schwitzte. Lag es an dem Gefühl, beobachtet zu werden oder daran, dass die Sonne so unbarmherzig brannte?
Er war froh, endlich in den dunklen Räumen untertauchen zu können, wo ihn niemand mehr sah. Dort steuerte er das Kämmerchen an, in dem er sich regelmäßig mit dem Hausmeister traf.
Außer heute.
Was soll’s, dachte sich Günter Laug, nahm die erste Flasche aus dem Kühlschrank und trank sie in großen Schlucken leer. Sofort fühlte er sich besser. Der Schock über den grässlichen Anblick des Kollegen rückte endlich in weite Ferne.
Jürgen Schnur und Erik Tenes trafen vor den Kollegen im großen Sitzungssaal ein. Sie setzten sich ans Kopfende, nahmen die wenigen Papiere, die vom Sekretariat über den Mordfall zusammengestellt worden waren, und warteten.
In die Stille fragte Schnur: »Hat Anke sich schon bei dir gemeldet?« Mit dieser Frage traf er voll ins Schwarze. Erik spürte, wie alle seine Emotionen, die er in letzter Zeit zu verdrängen versucht hatte, wieder hochkamen. Anke Deister, die Kollegin, die mit ihm im Team arbeitete, die für Erik mehr war als nur eine Arbeitskollegin. Sie war zu einer Weiterbildung nach Frankreich ausgebrochen, die nicht wirklich nötig gewesen wäre. Kullmann hatte sie begleitet. Ihn zu fragen war ihr nicht in den Sinn gekommen, was in Erik eine heftige Eifersucht auslöste, über die er nicht sprechen wollte. Zu viele alte Wunden könnten aufgerissen werden.
»Nein«, gab Erik zu.
»Das verstehe ich nicht«, wunderte sich Schnur. »Ich dachte immer, ihr beiden versteht euch.«
»Dachte ich auch«, grummelte Erik und bemühte sich, seine wahren Gefühle vor seinem Vorgesetzten zu verbergen.
Doch Schnur wusste es bereits. Er war ein Fuchs. Ihm konnte Erik so schnell nichts vormachen.
»Das ist natürlich ungeschickt, denn ich habe darauf gebaut, dass Anke dich immer auf dem Laufenden hält, was in Frankreich passiert.«
Erik schluckte schwer. Genügte es nicht, dass er selbst enttäuscht war? Musste Schnur noch zusätzlich seine Enttäuschung über ihn ausdrücken? Seit Ankes Fortgang nach Frankreich fühlte sich Erik innerlich zerrissen. Die Frage, was er falsch gemacht haben könnte, quälte ihn. Von ihr hatte er nicht die geringste Andeutung bekommen, warum sie diese Dienstreise überhaupt angetreten hatte.
Ein Klopfen an der Tür unterbrach die unangenehme Situation. Erleichtert schaute Erik auf und sah eine fremde Frau den Raum betreten. Zu seinem Erstaunen reagierte Schnur auf sie, als würde er sie schon lange kennen. Damit schien für den Augenblick das leidvolle Gespräch vergessen.
»Andrea Westrich«, rief Schnur aus, erhob sich und ging auf die Frau zu. Sie war groß und kräftig. Ihre dunklen Haare wurden von einigen grauen Strähnen durchzogen. Große, mandelförmige Augen strahlten Ruhe und Zuversicht aus.
Erik beobachtete sie von seinem Platz aus und musste sich eingestehen, dass ihm diese Frau auf Anhieb sympathisch war.
»Ja, inzwischen heiße ich tatsächlich wieder Westrich«, erklärte die Frau lachend.
»Was soll das heißen?«
»Ich war mal verheiratet und bin zu meinem Ehemann nach Berlin gezogen. Bestimmt zehn Jahre habe ich es mit ihm in der großen Stadt ausgehalten. Dann wurde meine Ehe glücklich geschieden, ich nahm meinen Mädchennamen wieder an und bin ins Saarland zurückgekehrt«, erklärte die Frau mit warmer, herzlicher Stimme.
»Tja! Wir Saarländer können einfach nicht von unserem kleinen Bundesland lassen.«
»Meine Tochter ist bei ihrem Vater in Berlin geblieben«, fügte Andrea an. Ihre Stimme bekam dabei einen wehmütigen Klang. »In Berlin geboren, fühlte sie sich wohl wie eine echte Berlinerin.«
Schnur nickte nur, weil er nicht wusste, was er dazu sagen sollte.
»Was ist aus deinen großen Plänen geworden?«, fragte Andrea, um die peinliche Stille schnell wieder zu unterbrechen. »Wolltest du nicht mal zum FBI nach Quantico?«
Erik schaute interessiert auf.
Schnurs Gesicht rötete sich, als er antwortete: »Ja ja! Unsere Träume … Sie haben zumindest den Vorteil, dass wir das Beste aus unserer Situation machen. Jetzt bin ich Dienststellenleiter und damit auch zufrieden.«
»Was macht deine Familie?«
»Meine Tochter studiert in Tübingen – nicht weit genug weg von zuhause. Jedes Wochenende kommt sie und sorgt für Streit. Mein Sohn ist ein totaler Technik-Freak. Ständig drückt er mir etwas Neues aufs Auge.« Dabei zog Schnur ein Mobiltelefon aus seiner Hemdtasche. »Hier, so ein Gerät mit Touch-Screen! Und Apps! Ich habe nicht den leisesten Schimmer, was ich damit machen soll.«
»Telefonieren?«, überlegte Andrea.
»Danke für den Tipp!«
»Du hast dich nicht verändert.« Andrea lachte.
»Und du hoffentlich auch nicht«, entgegnete Schnur. »Arbeitest du jetzt in meiner Abteilung oder wurdest du mir nur für die SokoLehrer zugeteilt?«
»Meinem Antrag, in deine Abteilung zu kommen, wurde sofort stattgegeben. Es sieht so aus, als gebe es bei dir die große Massenflucht.« Andrea grinste verschmitzt.
»Nichts ist so schlimm, wie es aussieht«, wehrte sich Schnur. »Ein Kollege ist mit seinem Durchlauf durch die Abteilungen noch nicht fertig. Ein anderer hat sich selbst seinen Rausschmiss besorgt. Und Anke Deister arbeitet zurzeit im Ausland.«
»Oh!«
Das Gespräch der beiden wurde durch die Ankunft der anderen Kollegen unterbrochen. Es dauerte nicht lange, schon waren alle Plätze in dem großen Saal besetzt und weitere Stühle wurden hereingetragen.
Staatsanwältin Ann-Kathrin Reichert betrat in Begleitung von Kriminalrat Dieter Forseti den Saal ganz zum Schluss. Gemeinsam setzten sie sich in die Menge hinein, eine Geste, die von allen mit Erstaunen beobachtet wurde.
Schnur beherrschte sich, weil ihm die das Verhalten seiner Mitarbeiter nicht entging. Ann-Kathrin war in eine angeregte Unterhaltung mit Forseti vertieft, weshalb sie davon nichts mitbekam.
»Liebe Kollegen! Für alle diejenigen unter uns, die unsere neue Mitarbeiterin noch nicht kennen, stelle ich sie hiermit vor«, begann Schnur die Besprechung, wobei er Mühe hatte, seinen Tonfall neutral klingen zu lassen. Dabei wusste er selbst nicht so genau, was ihn mehr ärgerte: die offen zur Schau getragene Innigkeit zwischen Ann-Kathrin und Forseti oder das Verhalten seiner Leute. Er war sich so sicher gewesen, dass ihr privater Kontakt ein Geheimnis sei. Vermutlich hatte er vergessen, was seine Leute von Berufs wegen machten. Doch bevor er seine Rede vergaß, berichtete er hastig dasselbe, was Andrea vor wenigen Minuten ihm erzählt hatte. Mit einem gebührenden Klopfen auf die Tischplatte wurde sie begrüßt.
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