1 ...7 8 9 11 12 13 ...16 Dann begann er mit dem dienstlichen Teil: »Wir haben hier einen Todesfall, der uns eine Menge abverlangen wird. Es gibt nämlich die vermutlich größte Anzahl an Verdächtigen, seit wir Mordfälle aufklären.«
»Was wir dem Hausmeister zu verdanken haben«, gab Esther zum Besten.
»Der gute Mann war nicht auf die Idee gekommen, dass sich nachts Lehrer im Schulgebäude aufhalten könnten.« Damit riss Schnur das Gespräch wieder an sich. »Was mich nämlich zu der Frage führt: Was hat ein Deutschlehrer in der Nacht von Sonntag auf Montag zwischen Mitternacht und zwei Uhr im Schulgebäude zu suchen?«
»Ein Stelldichein mit einer Geliebten?«, spekulierte Andrea.
»Gibt es etwas, was wir über den Deutschlehrer Bertram Andernach wissen?«, fragte Forseti.
»Nein«, antwortete Schnur und fügte an: »Deshalb sitzen wir hier. Wir müssen alles über den Toten herausfinden. Seine Lebensumstände, seine Freunde, seine Feinde, seine Arbeitsmethoden und auch die Möglichkeit, ob er eine Liaison mit einer Kollegin hatte. Das würde erklären, was er zu dieser Zeit in der Schule zu suchen hatte.«
Überall raschelten die Blätter. Die Kollegen schrieben eifrig mit.
»Zurzeit wird die Leiche des Deutschlehrers obduziert«, sprach Schnur nach einer kurzen Pause weiter. »Aber vorweg hat uns der Gerichtsmediziner schon gesagt, dass Bertram Andernach noch gelebt hat, als er am Strick hochgezogen wurde.«
Ein erstauntes Murmeln entstand.
»Das bedeutet eine besondere Grausamkeit«, stellte die Staatsanwältin fest. »Und das schließt wohl einige Verdächtige aus.«
»Richtig«, stimmte Schnur zu. »Ich halte die Schüler im Alter zwischen elf und vierzehn Jahren nicht für fähig einen erwachsenen Mann auf diese Art und Weise zu töten. Erstens könnte sich der Lehrer gegen sie wehren, und zweitens traue ich Gymnasialschülern in dem Alter eine solche Grausamkeit nicht zu.«
»Fünfzehnjährigen aber schon?«, hielt Anton dagegen.
»Keine Ahnung«, gestand Schnur. »Mein Sohn war mit fünfzehn total harmlos. Meine Tochter hatte in dem Alter schon mehr Biss als ihr Bruder.«
»Also knöpfen wir uns die Schülerinnen vor«, schlussfolgerte Erik.
Ein amüsiertes Raunen ging durch die Menge.
»Du wirst dich um den männerverschlingenden Vamp kümmern, diese Mirna«, gab Schnur zu verstehen.
Sofort waren alle Kollegen hellwach.
»Wow! So einen Auftrag hätte ich auch gern!«
»Was bist du doch für ein Glückspilz!«
»Manometer Erik! Schaffst du das allein oder brauchst du tatkräftige Unterstützung?«
Es war Forseti, der es glänzend verstand, die gute Stimmung abzutöten. Mit strenger Stimme sprach er: »Es gibt hier nicht den geringsten Anlass zum Scherzen. Nicht nur, dass es pietätlos ist. Sondern weil hier wohl niemand das wirkliche Ausmaß dieses Falles begreift.«
Alle starrten ihn entgeistert an.
»Hat jemand von euch schon mal ins Internet geschaut?«
»Dazu hatten wir noch keine Zeit«, gab Schnur zu verstehen.
»Die Zeit wäre aber sinnvoll gewesen, denn Youtube und Clipfish.de sind inzwischen voll mit Aufnahmen des erhängten Lehrers.«
Damit löste Forseti großes Staunen aus. Nur Schnur konnte sich dem aufgeregten Treiben der Mitarbeiter nicht anschließen. Viel zu groß war sein Ärger über sein Versäumnis. Das kam davon, dass er sich mit dem Internet nicht auskannte.
Trotzig fragte er: »Was ändert das an unserer Arbeit?«
»Das ändert wohl die Prioritäten«, antwortete Forseti. »Wir alle kennen das postmortale Persönlichkeitsrecht . Das betrifft die Fortwirkung des Persönlichkeitsschutzes über den Tod hinaus.«
»Soweit ich weiß, endet die Rechtswirkung des Persönlichkeitsrechts mit dem Tod eines Menschen«, hielt Schnur dagegen.
»Es gibt ein Gesetz, das sogenannte Urheberrechtsgesetz in Form des Urheberpersönlichkeitsrechts«, schaltete sich die Staatsanwältin in das Gespräch sein. »Das besagt, dass besondere Persönlichkeitsrechte auch über den Tod hinaus wirken können. In unserem Fall ergibt sich ein möglicher Achtungsanspruch, weil der Lehrer eine Person des öffentlichen Lebens war, der seinen Schülern und auch ehemaligen Schülern in Erinnerung bleiben wird.«
»Was heißt das für uns?«, fragte Schnur.
»Bis jetzt nichts«, antwortete Ann-Kathrin. »Gegen die Verletzung dieser Art von postmortalem Persönlichkeitsrecht können nämlich nur Angehörige vorgehen.«
»Hatte der Lehrer Angehörige?«, fragte Forseti.
»Er war zweimal geschieden und hatte keine Kinder. Beide Ehefrauen sind inzwischen wieder verheiratet«, antwortete Schnur.
»Können wir nur hoffen, dass diese Damen sich nicht beschweren«, kam es zynisch von Forseti. »Solche eklatanten Versäumnisse an einem Tatort dürfen nicht passieren.«
Schnur spürte seinen alten Zorn in sich aufwallen. Sein Blick traf auf Ann-Kathrin, die eine Augenbraue hochzog, eine Geste, die Schnur inzwischen verstand. Sie würde einen offenen Streit vor versammelter Mannschaft nicht gutheißen, sollte das bedeuten. Also bemühte er sich, sein Adrenalin herunterzufahren und antwortete so lässig, wie es ihm nur möglich war: »Wir wurden erst informiert, als der Schaden schon angerichtet war. Also können Sie uns kein eklatantes Versäumnis vorwerfen.«
Die Stimmung war geladen. Keiner der Anwesenden wusste, in welche Richtung er schauen sollte. Umso erleichterter waren alle, als Schnur die Besprechung in ruhigerem Tonfall weiterführte: »Wir haben vom Schulleiter sämtliche Schüler der Schule aufgelistet bekommen. Zusammen mit den Schuljahrgängen, Benotungen und sonstigen Einträgen. Von den Lehrern haben wir die Personalakten. Meine Anweisung an euch lautet, alle diese Akten durchzusehen.«
Stöhnen war die Antwort, doch Schnur ließ sich nicht aufhalten: »Ich weiß, ich weiß! Das ist eine langweilige und trockene Arbeit. Gehört aber dazu. Denn, sollte Andernach sich tatsächlich einen Feind in der Schule geschaffen haben, finden wir ihn nur durch Akteneinsicht.«
Stille statt Zustimmung.
»Ich sehe, wir sind uns einig«, erkannte Schnur.
»Gibt es eigentlich etwas, was wir schon an Fakten haben?«, fragte Forseti in die frustrierte Runde.
»Nur den Todeszeitpunkt und die Todesart, wenn auch noch nicht offiziell«, gestand Schnur.
»Dann stehen Zeugenbefragungen im näheren Umfeld der Schule an.«
Schnur schaute auf seinen Vorgesetzten und sah, wie er sich mit der Staatsanwältin absprach. Mürrisch antwortete er darauf: »Das wird nicht so einfach. Dort wohnen keine Leute in unmittelbarer Nachbarschaft.«
Esther fuhr hoch und rief: »Aber dafür gibt es direkt gegenüber eine Fahrschule!«
»Ja und?«
»Nachtfahrten«, antwortete Esther, als habe sie damit den Jackpot geknackt.
»Nachtfahrten?«, wiederholte Schnur begriffsstutzig.
»Ja! Um zur Führerscheinprüfung zugelassen zu werden, müssen die Schüler eine bestimmte Anzahl an Nachtfahrten absolvieren. Am besten fragen wir dort an, ob zu der Zeit, als Bertram Andernach getötet wurde, zufällig jemand in der Fahrschule war.«
»Esther, du bist klasse«, lobte Schnur. »Auf die Idee wäre ich nicht gekommen. Da der Geistesblitz von dir kommt, darfst du dich darum kümmern.«
Zufrieden lehnte sich Esther zurück.
»Anton wird dich begleiten«, fügte Schnur an. »Und Erik wird ab sofort mit Andrea zusammenarbeiten.«
Schnur erhob sich von seinem Platz und bemerkte abschließend: »Ich habe mir die delikateste Aufgabe vorbehalten – nämlich den Besuch beim Gerichtsmediziner.«
Ein Haus sah aus wie das andere. Erik hatte Mühe zu erkennen, in welchem die Wohnung lag, die er suchte. Die Reduktion der Bauweise dieser Häuser auf das Wesentliche und die Verwendung von Baustoffen wie Spannbeton, Stahl und Glas gaben ihnen einen trostlosen Anstrich. Der Verzicht auf Dekoration und die Verwendung einheitlicher Materialien förderte ein uniformes Erscheinungsbild der Gebäude, was viel Wohnraum für geringen Bauaufwand ergab. Zum Glück stachen ihm die Hausnummern groß und deutlich entgegen. Das ersparte ihm langes Suchen. Die Deutschherrenstraße in Saarbrücken gefiel ihm nicht sonderlich. Aber er wollte nicht kritisieren, denn die Brauerstraße, in der seine Wohnung lag, gehörte wegen des Drogenhilfezentrums auch nicht gerade zu den gehobenen Wohngebieten Saarbrückens.
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