Er war der einzige Mensch, der während der Wutattacken seines Vaters zu diesem durchdringen und ihn wieder zurück in die Realität bringen konnte. Der Pfarrer war für Friedrich Hänssler mehr Vater als sein leiblicher. Mit ihm hatte der junge Mann seine Pläne, zur Bundeswehr zu gehen, besprochen. Nach der Grundausbildung hatten sie im kleinen Steinhaus des Geistlichen bei einem Bier die Möglichkeiten diskutiert ins Ausland zu gehen. Normalerweise hätte Friedrich sich jetzt zwischen Heer, Marine oder Luftwaffe entscheiden sollen, um seine weitere Karriere bei der Bundeswehr fortzusetzen. Friedrich wusste schon in der Grundausbildung, dass er ins Ausland wollte. Irgendetwas trieb ihn weg. Weg von zu Hause.
„Hast du eigentlich gewusst, dass die Bundeswehr seit vielen Jahren in humanitären Einsätzen im Ausland tätig ist?“
„Der Einsatz nach diesem schrecklichen Erdbeben in Agadir war doch überall in den Zeitungen“, hatte Alfred damals geantwortet.
„Bei so etwas würde ich gerne beteiligt sein. Das wird im Laufe der Zeit mehr werden.“
„Dann wirst du also zur Luftwaffe gehen?“, stellte Alfred fest. „Sieht wohl so aus“, hatte Friedrich entgegnet.
Lange währte Friedrichs Einsatz bei der Luftwaffe nicht. Friedrich hatte sich im Laufe der Zeit bei diversen humanitären Einsätzen als eine Art Krisenmanager hervorgetan. Ihm schien es leicht zu fallen, mit den unterschiedlichen Menschen unterschiedlicher Kulturen in Kontakt zu treten. Dieses Talent war auch seinen Vorgesetzten nicht entgangen und so hatte Friedrich die Chance erhalten, in einem Austauschprogramm zwischen FBI, US Army und dem deutschen Außenministerium teilzunehmen und sich als Profiler ausbilden zu lassen. Bei Alfred hatte er sich nach jedem seiner Einsätze zuerst zurückgemeldet. Der alte Pfarrer war es auch, der ihn vom Tod seines leiblichen Vaters berichtet und der den Hauptteil dessen Beisetzung organisiert hatte.
***
„Alfred, wo bist du?“ In dem Moment, als seine Frage seinen Mund verließ, wurde Friedrich bewusst, was er für einen Quatsch gefragt hatte. Wo sollte Alfred denn sein. Natürlich bei sich zu Hause.
Friedrich schnappte sich das Telefon, hielt den Hörer weiter an sein Ohr und ging auf den alten Sessel zu. Die Telefonschnur spannte sich gefährlich und drohte aus der Telefonbuchse zu reißen. Mit dem rechten Fuß versuchte Friedrich den Sessel ein wenig zu sich zu ziehen und so die Spannung von der Schnur zu nehmen.
„Alfred? Hörst du mich noch?“
„Friedrich? Ja, ich bin noch da. Was hast du gemacht?“
„Ich habe gerade das Zimmer gewechselt. Aber nun erzähle doch mal von vorne. Was hat dich so erschreckt, dass ich deinen Herzschlag durch den Telefonhörer hören kann?“
„Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Mir ist es abwechselnd heiß und kalt. Dabei ist doch gar keinen Föhn heute.“
„Alfred, du bist doch ganz durcheinander. Was hast du denn erlebt, dass du keinen klaren Gedanken mehr fassen kannst? Ich glaube nicht, dass das irgendetwas mit dem Wetter zu tun hat.“
„Nein, nein, natürlich nicht. Bitte verzeih mir. Bei mir ist gerade alles sehr wirr im Kopf.“
Alfred atmete zweimal tief durch und setzte erneut an, Friedrich von seinem Erlebnis zu erzählen.
„Du weißt doch, dass ich nach der Messe die Besucher verabschiede. Dann schaue ich nochmal durch die Reihen, ob alles in Ordnung ist, bevor ich die Kirche abschließe. Oh Gott, habe ich überhaupt abgeschlossen? Friedrich, ich muss nochmal los.“
„Alfred, warte, nicht auflegen“, versuchte ihn Friedrich zu stoppen.
„Deine Kirche steht in einem kleinen Dorf. Das wird jetzt nicht schlimm sein, wenn du nicht abgeschlossen hast. Jetzt atme noch einmal durch und erzähle weiter.“
„Du wirst recht haben. Wo war ich stehen geblieben?“
„Du hast die Gottesdienstbesucher verabschiedet und bist dann noch einmal durch die Bankreihen gegangen. Was war dann?“
„Ja, genau, die Bankreihen. Ich laufe da so durch und entdecke in der hintersten Reihe noch ein Gesangbuch, welches nicht zurückgelegt wurde. Weißt du, es ist immer dasselbe. Es wird immer schlimmer. Die Leute nehmen sich was und dann stellen sie es einfach nicht mehr zurück. Kannst du dir das vorstellen?“
„Verstehe, aber du willst mir doch nicht erzählen, dass dich ein nicht zurückgestelltes Gesangbuch so aus der Fassung gebracht hat?“
„Nein, nein, du hast recht. Obwohl mich die Gleichgültigkeit der Menschen schon in Rage versetzt. Gut, du hast recht. Ich sehe also dieses Gesangbuch und nehme es gerade an mich, als ein Briefumschlag auf den Boden fällt.“
„Ein Briefumschlag? Wie kommt denn da ein Briefumschlag hin? Hast du ihn aufgemacht? Was war denn da drin?“
„Langsam, langsam, jetzt wirst du ja aufgeregt.“ Tadel lag in Alfreds Stimme.
Er atmete noch einmal tief durch und setzte seinen Bericht dann fort.
„Ich habe ihn aufgehoben und aufgemacht. Da war ein Schreiben drin, die Buchstaben ausgeschnitten aus Zeitungen und Zeitschriften.“
„Jemand hat dich bedroht? Habe ich das richtig verstanden?“
„Ja, jetzt ist es raus.“
„Alfred, hast du eine Ahnung, was sich dahinter verbirgt?“
Stille.
„Alfred? Hörst du mich?“
Stille.
„Alfred, ich kann dir nicht helfen, wenn du nicht mit mir sprichst.“
Stille, dann ein Seufzen, ein tiefes, ein gequältes.
„Fahr nach Südtirol“, kam vom anderen Ende. „Fahr in meine alte Heimat, in das klei-ne Bergdorf Schönberg. Dort wirst du hoffentlich alle Antworten finden. Bitte mach, dass das aufhört. Du bist doch ausgebildet in solchen Krisen.“
Der Profiler hielt noch eine Weile den Hörer in der Hand und starrte in die Ferne. Sein priesterlicher Freund klang sehr aufgeregt. Er wusste, dass er sich diesem verzweifelten Hilferuf nicht entziehen konnte. Solange er denken konnte, hatte er seinen Alfred noch nie so aufgewühlt erlebt.
Der alte Priester hatte ihm von den Drohbriefen berichtet und im Laufe des Gespräches auch eingestanden, dass er so einen Brief nicht zum ersten Mal erhalten hatte. Alfred hatte so lange gezögert, weil er wohl immer wieder gehofft hatte, dass es sich nur um einen schlechten Scherz handeln würde.
„Gib mir ein bisschen Bedenkzeit. Ich melde mich bei dir.“
Friedrich hing den Telefonhörer zurück in die Gabel und sank komplett in den Sessel. Im selben Moment hatte er das Telefon vollständig in der Hand. Die Telefonschnur hatte die Spannung nicht ausgehalten und war aus der Buchse gerissen.
Er verdankte Alfred in vielen schweren Stunden Rückhalt und Unterstützung. Er musste sich zusammenreißen. Er konnte Alfred nicht hängen lassen.
***
Alfred Hinterzeller saß in seinem alten, abgewetzten Ledersessel inmitten seiner Wohnstube. Im Kaminofen flackerte ein behagliches Holzfeuer. Die Zimmer seines kleinen Steinhauses verfügten alle über eine sehr niedrige Deckenhöhe. Wenn er sich in die Mitte des Raumes stellte, konnte er immer noch trotz seiner vom Alter gezeichneten Körperhaltung mit der flachen Hand die Decke berühren. Das hatte natürlich den Vorteil, dass er seine Räume mit sehr wenig Aufwand, besonders in frostigen Wintermonaten, warm bekam.
Zu seinen Füßen lag Balu, der alte getigerte Kater. Der Pfarrer hatte ihn als Kitten adoptiert, mehr unfreiwillig. Doch diese treue Seele hatte sich in den letzten Jahren immer mehr in sein Herz geschlichen. Mit seinen Blicken gab er Alfred immer wieder das Gefühl, dass er bis auf die tiefsten Gründe seiner Seele schauen konnte. Dabei würde Balu nie ein Geheimnis preisgeben, wenn er es könnte, dessen war sich Alfred Hinterzeller sicher.
Der Pfarrer starrte in das flackernde Feuer. Die Holzscheite waren bis zur Hälfte heruntergebrannt. Die Flammen hatten tiefe Narben im Holz hinterlassen. Rote Glut schimmerte zwischen den schwarzen, verkohlten Holzresten hindurch.
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