Wenn ihre beruflichen Wege sie zusammenführten, trafen sie sich auf ein Feierabendbier. Sie philosophierten gemeinsam über ihre Hoffnungen und Träume.
Aus dem pockengesichtigen David war im Laufe der Zeit ein hochgewachsener, muskel-bepackter, immer freundlich lächelnder Mann geworden. Es lag viel Sanftes in seinem Wesen. Dennoch hatte er es in verschiedenen Eliteeinheiten zu viel Anerkennung gebracht. Brenzlige Situationen bewältigte er mit kühlem Kopf. David war der geborene Führer. Die jungen Offiziersanwärter hingen ihm in der Ausbildung an den Lippen. Die Kameraden hätten sich für ihn bedingungslos in ein Minenfeld begeben.
Auch Friedrich liebte es knifflig. Er interessierte sich für Menschen. Doch es war ihm lieber, wenn er sie und ihr Verhalten aus der Ferne zu erleben konnte. Ihr Handeln zu verstehen und zu analysieren, daran fand der Profiler seine Passion. Friedrichs Talent war es, schon früh zu erkennen, wie Menschen handeln und warum sie das taten.
Friedrich hatte sich die Gelegenheit geboten in einem Austausch mit den Amerikanern in Quantico beim FBI zum Profiler ausbilden zu lassen. Damit hatte sich der Ermittler das Handwerkszeug angeeignet, sein Talent karrieretechnisch einbringen zu können. Im Laufe seiner Karriere hatte er in vielen unterschiedlichen Ländern dieser Welt dazu beigetragen, Krisensituationen erfolgreich zu lösen, in die die Bundeswehr verschieden intensiv involviert war.
David und Friedrich, zwei, die nicht unter-schiedlicher sein konnten.
***
Schlussendlich hatte David sich selbst verraten. Eine dumme Bemerkung, die er beim Billardspielen mit Friedrich fallen ließ, hatte den Profiler zu ihm geführt.
„Na, hast du dann doch endlich deinen Job gemacht?“, grinste David Friedrich höhnisch an, als die Militärpolizei ihn festnahm.
Der vielfache Mörder hatte sich in einem der ausgedienten Flugzeughangars ein Refugium eingerichtet. Im Zentrum stand ein Metalltisch, auf den er seine Opfer fixieren konnte. Im hinteren Teil befand sich eine alte Schiefertafel, die über und über mit Formeln beschriftet war. Rechts neben dem großen Metallisch stand ein kleiner, rollbarer Beistelltisch, den man sonst in OPs oder Obduktionssälen fand.
Hierauf reihte sich ein Skalpell an das nächste.
Das freundliche Gesicht war zu einer abscheulichen Fratze verzogen. David Schöller zeigte nunmehr sein wahres Gesicht. Ein Gesicht voller Abscheu und Selbstgerechtigkeit.
David Schöller hatte sich letztendlich doch dazu entschieden, dass eine Frau in seine Versuchsreihe aufzunehmen.
Es war fast zu einfach gewesen Brigitte Schmidt am Abend zu vor aufzulauern. Er betäubte sie mit Chloroform und schaffte sie in sein Refugium. Nachdem David sie bis auf die Unterwäsche entkleidet hatte, schnallte er sich auf dem Metalltisch fest.
Brigitte Schmidt sollte sich ausschlafen.
Gut erholt konnten sie dann am nächsten Morgen gemeinsam das Projekt beginnen.
David wollte gerade zum ersten Schnitt ansetzen, als Friedrich mit Kameraden aus der Sondereinsatztruppe und der Militärpolizei den Hangar stürmten.
Ohne Gegenwehr ließ er sich abführen, aufrecht im Gang mit einem Grinsen im Gesicht.
Keiner in seiner Umgebung ahnte, welchen inneren Kampf Friedrich mit sich ausgefochten hatte.
Friedrich hatte nicht nur seinen besten Freund verloren.
***
Die Spuren seines nächtlichen Kampfes konnte Friedrich zweifelsohne an seinem völlig zerwühlten Bett erkennen. Die Bettdecke hing halb auf dem Boden. Kopfkissen und Kopfkissenbezug fand er getrennt voneinander am Fußende des Bettes. Das Bettlaken hatte er wohl im Traum aus den Ecken der Matratze gepflückt, zusammengeknüllt und sich an den zusammengeknäulten Wäschehaufen geschmiegt.
Friedrich war in Embryohaltung mit an den Körper angezogenen Beinen aufgewacht. Das Bettlaken, welches er umklammerte, fühlte sich feucht an. Er musste in der Nacht heftig geschwitzt haben. Auch sein Pyjama fühlte sich nicht mehr frisch auf seiner Haut an. Die Kopfschmerzen, die er im Traum gefühlt hatte, hatten den Übergang vom Unterbewusstsein ins Hier und Jetzt geschafft. Die Herde der afrikanischen Elefanten versammelte sich wieder hinter seiner Stirn.
Friedrich versuchte, die Augen langsam zu öffnen, wohlwissend, dass Helligkeit den Zustand seines Kopfes nicht verbessern würde.
Doch er zwang sich dazu. Hatte er doch Erfahrung im Umgang mit diesen Albträumen.
Seit Davids Verhaftung suchten sie ihn regelmäßig heim. Er sah sich immer wieder an seinem Schreibtisch, immer wieder in der Situation, als ihm klar wurde, dass ihn sein bester Freund schamlos hintergangen hatte und sich in eines der gefürchteten Monster verwandelt hatte.
Friedrich trieb nicht nur die Enttäuschung um eine verlorene Freundschaft um, sondern auch tiefen, magenzerreißende Selbstzweifel. Er hatte nicht nur Zweifel an sich selbst, sondern er fühlte sich selbst als Verräter. Die Kaserne und die Kameraden waren ihm ein Zuhause geworden. Ein Ort, eine Gemeinschaft und auch ein Urvertrauen, welches er nie in seiner eigenen Familie gespürt und erlebt hatte. Diese Gemeinschaft und deren Menschen hatte er nicht beschützen können.
Friedrich hatte kurz nach der Verhaftung von David Schöller bei seinem Vorgesetzten unbezahlten Urlaub beantragt. General Schmidt hatte ihm die seelischen Schmerzen angesehen und ihm Hilfe angeboten.
„Setzen Sie sich doch mit unseren Psychologen in Verbindung. Sie kennen die Kameraden. Was Sie jetzt brauchen, ist jemand, mit dem Sie reden können. Machen Sie den Scheiß nicht mit sich selbst aus. Sie tragen keine Schuld an dieser ganzen Misere.“
Friedrich hatte nur mit dem Kopf geschüttelt. Er wusste viel zu viel über die Methoden der Psychologen. Er wollte nicht sein Inneres nach außen kehren.
„Mensch, Junge“ schlug Schmidt in einem väterlichen Ton an und blickte Friedrich tief in die Augen. „Weglaufen ist keine Lösung. Wie oft haben Sie selbst diesen Satz ausgesprochen. Wir alle sind für Sie da. Jeder von uns wurde betrogen. Da kommen wir gemeinsam durch. Ich verdanke Ihnen das Leben meiner Frau Brigitte. Dafür kann ich Ihnen nicht genug danken. Brigitte und ich werden für immer in Ihrer Schuld stehen.“
Friedrich hatte sich wortlos mit einem Händedruck von dem General verabschiedet, seinen kakifarbenen Seesack über die Schultern geworfen und hatte die Kaserne verlassen. Jedem anderen in seiner Situation hätte er das Gleiche gesagt: „Nicht allein bleiben, sprich darüber, wir sind alle für dich da.“
Doch er musste raus, musste weg, musste allein sein. Bis ihn sein väterlicher Freund Alfred anrief.
Die beiden Kammern über dem ehemaligen Stall waren früher Teil einer alten Scheune gewesen. Damals beheimatete sie Heuballen und allerlei Werkzeug für die schwere Feldarbeit.
Die Scheune lag etwas abseits des eigentlichen Bauernhauses. Manchmal war dies ein Vorteil, wenn es darum ging, einen einsameren Rückzugsort genießen zu können. Im Winter hatte der ein oder andere Bauer die entlegene Scheune allerdings schon öfter verflucht. Der Weg durch die bitterkalte Landschaft vom Haupthaus hin zur Scheune und dann wieder zurück zu den Stallungen war zu dieser Jahreszeit alles andere als ein Zuckerschlecken.
Doch das war lange her. Dennoch schienen sich besonders die Wände dieser Räume oder vielmehr der alten Scheune ein historisches Gedächtnis bewahrt zu haben. Dieses öffnete sich jedem Gast, der der ganzen Intensität seiner inneren Gefühlswelt vertrauten wollte. Viele Feriengäste kamen an diesem Ort, um sich eine Auszeit von ihrem Alltag zu gönnen. Zeit, um Neues auszuprobieren, wie das Ski fahren lernen, die Nähe zu Natur aufzufrischen oder aber auch das Einlassen auf neue Kulturen und fremde Geschichten.
Friedrich Hänssler schaute sich in seiner neuen Behausung um. Für eine Woche hatte er sich hier in diesem kleinen Bergdorf ein-gemietet. Er wollte aus tiefstem Herzen heraus, seine Vergangenheit hinter sich lassen. Dies wäre womöglich der richtige Ort dazu. Wenn er nicht seinem väterlichen Freund ein Versprechen gegeben hätte.
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