Sein Blick blieb im Inneren seiner Wohnung haften.
Einen Preis für Innendekoration hätte er nicht bekommen. Dafür hatte er kein Händchen und auch keine Zeit. Seine Wohnung enthielt alles, was er benötigte. Ein alter Fernsehsessel, den er von seinem alten Herrn geerbt hatte. Die einzige Erinnerung an seinen Vater, die er bewusst in seinem Leben ließ. Ein Umzugskarton diente noch nach zwei Jahren als Couchtischersatz. Der Fernseher hatte seine besten Tage schon hinter sich. Friedrich Hänssler war das völlig egal. Er schaltete nur selten die Flimmerkiste an. Was dort tagtäglich in den Nachrichten zu sehen war, hatte er vielfach in seiner Brutalität bereits selbst erlebt.
Gestern hatte er per Zufall einen Film gesehen, in dem ein Motorradfahrer bei seiner eigenen Todesfahrt gefilmt wurde. Der Film sollte als Abschreckung dienen. Das Verkehrsamt hatte die Todesfahrt mit Schauspielern und Stuntmen nachgezeichnet, um auf die steigende Anzahl der Unfalltoten besonders unter den Motorradfahrern aufmerksam zu machen.
Seit einigen Jahren hatten sich die Zulassungen für Motorräder rasant vermehrt. Die Nachrichten waren voll von Berichten über schwere Unfälle. Die Achtzigerjahre werden in der Geschichte als Jahre des zunehmenden Individualverkehrs eingehen, so eine Studie, die Friedrich per Zufall bei der Suche nach aktuellen wissenschaftlichen Täter-Opfer-Studien in die Hände gefallen war. Friedrich seufzte. Er konnte diesem Geschwindigkeitsrausch und seinen Gefahren, dem sich einige freiwillig aussetzten, nichts abgewinnen. Gab es nicht genug Idioten und Monster auf dieser Welt, die mit Vergnügen anderen nach dem Leben trachteten? Musste man sich denn für ein kurzes Vergnügen selbst in diese große Gefahr bringen? Manchmal würde er gerne das Fenster, vor dem er gerade stand, weit aufreißen und in die Welt da draußen herausschreien, mit welchen Monstern er es in seinem Alltag immer wieder zu tun hatte. Doch er würde sicherlich nur viel Unmut wegen des Lärms und Verständnislosigkeit ernten.
Gerade liefen die Vorbereitungen, dass die seit vier Jahren geltende Anschnallpflicht bei Nichtbeachtung mit Geldstrafen belegt würde.
Sein Schlafzimmer bestand aus einem et-was abgenutzten IKEA Bett. Das schwedische Möbelgeschäft hatte in den Siebzigerjahren damit begonnen auch in Deutschland seine geschäftlichen Fühler auszustrecken. Friedrich konnte auch diesem Hype um günstige Möbel, die man in kleinen Paketen selbst nach Hause transportieren musste, um sie dann selbst aufzubauen, nichts abgewinnen. Dennoch befand sich dieses Bett nun in seinem Besitz. Seine Vermieter hatten ihm bei seinem Einzug vor ein paar Jahren angeboten, das alte Bett ihrer studierenden Tochter zu übernehmen. Da Friedrich durch seine vielen Reisen und ständigen wechselnden Wohnorte nicht wirklich viele Möbel angesammelt hatte, hatte er gerne das Angebot angenommen. Die Schrauben musste er immer dann von Zeit zu Zeit nachziehen, wenn der Lattenrost durchzubrechen drohte. Das passierte vorzugsweise mitten in der Nacht. Bereits zweimal fand er sich schmerzverzerrt auf dem Boden wieder.
Seine wenigen Klamotten hingen auf einem Kleiderständer oder befanden sich in einer einzigen Kommode. Viel benötigte er nicht. Die meiste Zeit trug er Jeans, T-Shirt und seine alte Lederjacke. Wenn er nicht in seine Uniform schlüpfen musste, die er aktuell nur ungern trug.
Wer hätte noch vor ein paar Jahren geglaubt, dass in einer Kirche irgendwann andere Töne als Orgelmusik zu hören sein würden?
Würde man das äußere Erscheinungsbild von Alfred Hinterzeller mit einem Wort zusammenfassen wollen, so wäre „Hutzelmännchen“ wohl der richtige Begriff. Die letzten Jahrzehnte waren einigermaßen gnädig mit dem alten Mann umgegangen. Er schien etwas geschrumpft zu sein, hatte aber mit dem Verlust an Körpergröße keinen Altersbuckel bekommen. Ansonsten konnte man ihn als eher drahtig beschreiben. In wilder Formation hatten sich auf seinem Gesicht etliche Falten gesammelt. Alfred Hinterzellers ganzes Wesen strahlte Güte aus, die sich vor allen Dingen in seinen warmen braunen Augen sammelte. Als Pfarrer dieser Gemeinde hatte er sich schwergetan, als er die ersten Male auf die Mitglieder der Band traf.
Komplett in schwarz gekleidet und mit ihren langen zotteligen Haaren hatten sie etwas Dunkles und Teuflisches an sich. Auf einer E-Gitarre prangte ein Highway-to-Hell-Aufkleber. Der Verstärker brummte so laut, dass es die Predigt störte. Und das Schlagzeug klang, als ob ein Blecheimer die Treppe herunterfiel. Aber den Jugendlichen gefiel es, und die Jugendandachten, die einmal im Monat stattfanden, wurden immer besser besucht.
Frau Böllerhaus, die Frau des Pfarrgemeinderatsvorsitzenden, hatte ihn eines Tages nach der Frühandacht zur Seite genommen.
„Pfarrer Hinterzeller“ flüsterte sie ihm in einem beinahe hysterischen Ton zu. „Wie können Sie es gutheißen, dass sich dieses Gesocks in einer Kirche aufhält? Das sind Teufelskinder. Haben Sie denn nicht gesehen, wie die aussehen? Die stinken bestimmt auch.“
Der Pfarrer hatte damals drei, viermal tief durchgeatmet. Am liebsten hätte er ihr gehörig die Meinung gesagt. Wie konnte man nur so voller Vorurteile sein?
Alfred Hinterzeller stand der kleinen Gemeinde von 2.000 mehr oder weniger frommen Seelen im Bayerischen Wald seit über 40 Jahren vor.
Zu dieser gehörten nun auch einmal die jungen Menschen, die auf der Suche nach ihrer eigenen Identität waren. Die meisten sah er nach der Firmung nie wieder. Und wenn sie einmal im Monat in seiner Kirche vorbeischauten und Musik machten, sollte das dem Geistlichen sehr recht sein.
Die Abendandacht war gerade eine halbe Stunde zu Ende. Pfarrer Hinterzeller hatte die letzten Gemeindemitglieder verabschiedet. Sven Möller, der Bandleader, räumte mit seinen Jungs die letzten Instrumente in den alten Bulli ein.
„Hier, die versprochenen 50 Mark.“ Der Pfarrer griff in die Seitentasche seiner Soutane und fischte einen Geldschein hervor. „Danke. Hat es Ihnen denn gefallen?“ Sven Möller winkte seinen Musikkollegen mit dem Fünfziger zu. „Ich habe das Laudato si noch nie mit so viel Power gehört.“ Und mit so falschen Akkorden versehen, fügte Hinterzeller in Gedanken hinzu.
„Dann dürfen wir künftig im Jugendkeller proben? Bei Bauer Appel in der Scheune ist es im Winter arschkalt.“
Der Pfarrer dachte an die Nachbarn, denen alles außer Blasmusik zuwider war. „Ich werde es mir überlegen und mit dem Pfarrgemeinderat besprechen“, versprach er, wusste aber bereits deren Antwort.
„Jetzt gibt es erst einmal Bratwurst und Pommes für alle beim Hopfenwirt“, rief Sven seinen Bandkollegen zu, als diese die Ladeklappe des Transporters geräuschvoll zuwarfen. „Wollen wir die Kohle nicht lieber sparen?“, fragte Hübi, der picklige Bassist der Gruppe. „Dann könnten wir uns mal richtige Monitore leisten.“ Die jungen Leute quetschten sich in ihren VW und fuhren diskutierend vom Pfarrhof.
Alfred erledigte die letzten Handgriffe in der Sakristei. Sein Ziel war es, so schnell wie möglich nach Hause zu kommen und sich vor den Kamin zu setzen. Dort warteten der neue Krimi von Konsalik und ein heißer Kakao mit Schuss auf ihn. Ein Gemeindemitglied hatte ihn vor ein paar Monaten mit einer Bücherkiste voller Krimis empfangen mit den Worten „Damit Sie auch mal etwas anderes lesen als nur dieses geistige Zeug aus der Bibel.“ Obwohl Alfred eher vermutete, dass ihm die Bücher überreicht wurden, weil man sie loswerden wollte, nicht um ihm etwas Gutes zu tun, hatte er sich sehr über diese Abwechslung gefreut.
Er griff nach einem Gesangbuch, das ein Gottesdienstbesucher ganz hinten auf der Bank liegen gelassen hatte, um es an seinen Platz zurückzustellen, als ein Briefumschlag vor ihm auf den Boden fiel. Alfred konnte sich gar nicht dran erinnern, ob er bei dem Griff nach dem Gesangbuch auch nach dem Umschlag gegriffen hatte. Aber er konnte auch nicht aus dem Buch herausgefallen sein.
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