Alfred sah sich suchend auf dem Boden um und bückte sich, um den Umschlag an sich zu nehmen. Merkwürdig. Kein Absender, kein Adressat. Manchmal gab es anonyme Spenden. Doch die landeten meist im Klingelbeutel.
Das Kuvert war an der Klebstelle verschlossen und so versuchte Alfred mit seinem Zeigefinger eine Lücke zu finden. Im Innern befand sich ein DIN A4-Blatt. Zweimal gefaltet. Er klappte es auf.
Bunte Bilder sprangen dem Pfarrer entgegen. Er benötigte eine Weile, um zu erkennen, dass es sich um Buchstaben handelte. Irgendjemand hatte sie wohl ausgeschnitten und auf dem Blatt Papier neu angeordnet.
Alfred Hinterzeller musste die Augen ein wenig zusammenkneifen, um den Text lesen zu können.
Ich weiß, was du getan hast. Ich werde dich fertigmachen und dir alles nehmen. Du elendiger Hund.
Der Brief glitt dem Pfarrer aus den Händen, als er seine Arme sinken ließ.
***
Alfred Hinterzeller brauchte eine Weile, um sich zu fassen. Im Eiltempo trat er aus der Sakristei und vergaß, die Tür mit dem schmiedeeisernen Schlüssel abzuschließen.
Er eilte die steinigen Stufen zu seinem kleinen Pfarrhaus hoch. Seine alten Beine zitterten. Die steifen Knie hatten bei jedem Schritt Probleme, die unterschiedlichen Höhen der Steinstufen zu nehmen. Mit der einsetzenden Dämmerung hatte er zunehmend Probleme damit. Die Stufen waren uneben und glänzten vom Regen.
Seine Gedanken rasten. Schweiß brach trotz der herbstlichen Kühle auf seiner Stirn aus. Wer war heute alles in der Kirche gewesen? Wer hatte auf dem Platz ganz hinten gesessen, an dem das Gesangbuch mit dem Brief lag? Fremde fielen auf. Jedoch kamen wegen der Jugendandachten inzwischen auch Auswärtige. Der Eingangsbereich. Er konnte sich an die Müller-Zwillinge und die Göre vom Zwingenberger erinnern. War da noch jemand? Alles war gut beleuchtet. Nur der Be-reich bei der Mutter-Gottes-Statue lag immer in Düsternis, wenn man nicht extra im Sicherungskasten das Licht einschaltete, was er selten tat, um Strom zu sparen.
Der Saum seiner schwarzen Soutane hatte sich mittlerweile mit dem Wasser der zahlreichen Pfützen vollgesogen. Das erschwerte Alfred Hinterzeller zusätzlich das Laufen.
Priestergewänder waren üblicherweise aus Gabardine gefertigt. Ein Kammgarngewebe, welches bei Nässe immer schwerer wird.
Die Atmung des Gottesmannes ging schneller. Eigentlich müsste er kurz innehalten und einmal richtig tief durchatmen. Doch dafür war keine Zeit. Er schob alle Gedanken beiseite, ebenso die Schmerzen, die jede Bewegung mit sich brachte.
Nur ein Gedanke trieb ihn an. Er musste so schnell wie möglich seine Wohnung erreichen. Jetzt konnte nur noch ein Mann helfen.
***
Mit zitternden Händen, den eigenen Puls als Rauschen in den Ohren, suchte Alfred nach dem Türschlüssel. Er fand ihn in der linken Seitentasche seiner Soutane. Er bekam den Schlüsselbart zuerst zu fassen. Seine Finger waren klamm und steif. Endlich hatte er ihn in der richtigen Position.
Oft verzog sich bei diesem Wetter das alte Holz des Rahmens. Alfred Hinterzeller verspürte den Drang, sich in das Türblatt zu schmeißen. Doch Gewalt musste er nicht anwenden. Der Schlüssel glitt, einmal in die richtige Position gebracht, problemlos in den Schlosszylinder. Die schwere Holztür schwang auf und der Priester betrat den Flur. Den Fußabtreter im Fußraum ignorierte er. Mit pitschnassen Schuhen trat er in die Diele und hinterließ dabei dreckige Abdrücke. Zwei, drei Schritte. Schon erreichte er sein Scheibentelefon auf der Kommode.
Die Nummer? Wo war sein kleines, ledergebundenes Adressbüchlein? Seine nasskalten Finger tasteten in der Schublade herum. Er fasste in eine Reißzwecke. Fluchend zog er die Hand zurück und steckte sich den Finger in den Mund. Endlich hatte er es gefunden. Er musste es zweimal durchblättern, bis er den richtigen Eintrag fand.
Mit zitternden Beinen stand er vor dem Telefon und bediente mit dem linken Zeigefinger Zahl für Zahl die Wählscheibe.
Während er darauf wartete, dass am anderen Ende der Leitung jemand abnahm, schweiften seine Gedanken in die Vergangenheit ab.
***
Friedrich Hänssler und Alfred Hinterzeller kannten sich schon ein Leben lang.
Alfred Hinterzeller konnte sich noch ganz genau an den schüchternen Jungen erinnern, dem er vor mehr als dreißig Jahren zum ersten Mal begegnet war.
Alfred wartete ungeduldig und mit klopfendem Herzen darauf, dass am anderen Ende endlich jemand den Telefonhörer abnahm.
***
Ein überraschendes Klingeln seines Telefons ließ sich Friedrich Hänssler vom Wohnzimmerfenster abwenden. Mit einem leichten Kopfschütteln löste er den Blick von der bunten Punkergruppe.
„Friedrich? Friedrich, bist du es? Friedrich, hörst du mich?“
„Ja, Alfred, ich bin es. Was ist denn los? Du bist ja ganz außer Atem. Ganz ruhig, du musst Luft holen. Ich verstehe dich sonst nicht.“
„Friedrich, wie gut es ist, deine Stimme zu hören. Ich weiß nicht weiter. Friedrich...“
***
Alfred Hinterzeller war ein langjähriger Freund seines alten Herrn. Auch nach all den Jahren konnte sich Friedrich Hänssler immer noch keinen Reim auf diese Verbindung machen. Sein alter Herr war aufbrausend gewesen. Friedrich Hänssler kannte seinen Vater immer nur mit hochrotem Kopf und pulsierender Schlagader. Wenn er sich aufregte, glaubte man, den Dampf aus seinen Ohren aufsteigen zu sehen. In Sekundenschnelle konnte sein Gesicht die Farbe wechseln – sogar bis hinter die Ohren war das Rot zu erkennen. Seine Stimme erhob sich dann zu einem ohrenbetäubenden Brüllen und überschlug sich. Er musste immer wieder nach Luft japsen und versuchte ungeachtet, dieser lebenswichtigen Maßnahme einzelne Worte herauszuquetschen.
Friedrichs Vater war einer der mächtigsten Bauern im Bayrischen Wald gewesen. Neben der größten Schweinezucht hatten seinem Vater etliche Hektar an Wald und Viehweiden gehört, die er verpachtete. Die Freundschaft zwischen den beiden Männern hatte direkt nach Alfreds Ankunft im Dorf begonnen. Friedrich erinnerte sich daran, dass sein Vater ihm mal – in einer seiner friedlichen Phase – erzählt hatte, dass Alfred eines Tages auf dem Hof gestanden hatte.
„Ich wollte ihn schon davonjagen, aber irgendetwas hat mich davon abgehalten“, wusste sein Vater zu berichten. „Wir haben dann erst einmal einen Schnaps miteinander getrunken und über die Landwirtschaft und ihre Herausforderungen gesprochen. Alfred ist auf einem Hof in Südtirol aufgewachsen, und wenn er sich nicht dazu entschieden hätte Pfarrer zu werden, hätte er wohl seinen Lebensunterhalt weiterhin in der Landwirtschaft verdient.“
Und so fand Alfred nicht nur seinen Platz im Leben seines Vaters, sondern entwickelte sich auch zu einer Vaterfigur für Friedrich Hänssler.
Er konnte sich weder in seiner Kindheit noch in seiner Jugend den cholerischen Anfällen seines Vaters entziehen. Vielleicht war die Entscheidung, sich bei erster Gelegenheit bei der Bundeswehr zu verpflichten, seine Art, diesem familiären Schlachtfeld zu entfliehen.
Seine Mutter hatte kurz nach seiner Geburt ihre Art der Flucht angetreten und sich den Wutanfällen entzogen. Sie hatte es nie geschafft, aus einer Wochenbettdepression wieder herauszukommen. Ihr Kopf hatte sich eine eigene, heile, nach innen gekehrte Welt erschaffen. Den Schlüssel daraus hatte sie für alle Zeiten versteckt. Vor ein paar Jahren hatte Friedrich sie in seine Nähe geholt. Zurzeit lebte sie in einem Sanatorium in Kronberg.
Vor fünf Jahren hatte ein weiterer Wutanfall ein zu dem Zeitpunkt nicht erkanntes Blutgerinnsel im Kopf seines Vaters zum Platzen gebracht. Jede medizinische Hilfe kam zu spät. So verabschiedete sich Friedrich Hänsslers Vater aus dieser Welt, wie er in ihr gelebt hatte – mit einem Knall.
Alfred dagegen war die Sanftmut in Person.
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