Luxus war ich sowieso nicht gewohnt und brauchte es auch nicht. Ich schlief auf einer dünnen Schaumstoffmatratze auf dem Boden und benutzte Umzugskartons als Tisch. Teller hatte ich keine, aber ich besorgte mir für kleines Geld aus einem Kaufhaus Pappteller und benutzte sie gleich mehrmals, bevor ich sie dann wegwarf. Der kleine Herd in meiner neuen Wohnung hatte auch mehrere Zicken. Teilweise reagierten die Platten nicht oder ich stand im Dunkeln, weil die Sicherung durchbrannte, als ich ihn einschaltete. Zumindest hatte ich ein funktionierendes Badezimmer und eine Heizung. Man lernt, die kleinen Dinge zu schätzen, wenn man lange Zeit in einer alten und kalten Wohnung leben musste. Im Winter benutzte ich bei meinen Männern teilweise vier oder fünf Decken, um nicht zu erfrieren, wenn es draußen richtig frostig kalt war. In meiner ersten Winternacht in der Wohnung handelte ich aus Gewohnheit wieder so. Es dauerte keine zwei Stunden, bis ich schweißnass wieder aufwachte. Es war einfach viel zu warm.
Wenigstens bekam ich öfter Besuch. Wilfried, Nils und Lothar besuchten mich, so oft sie konnten, und blieben in den kalten Monaten auch mal gerne über Nacht. Jedes Jahr an meinem Geburtstag standen pünktlich alle mit kleinen liebevollen Geschenken vor der Tür. Ich ließ es mir nicht nehmen für die ganze Meute zu kochen. Auch Karsten, der angefangen hatte zu boxen, war öfter bei mir als zu Hause. Aus dem kleinen Jungen, der noch an meinen Beinen hing, wurde langsam ein richtiger Mann. Er wuchs zu einer imposanten Erscheinung heran. Ich bin irgendwann kurz über Zwergengröße einfach nicht mehr weiter gewachsen. Trotz seines jungen Alters von 12 Jahren überragte er mich schon um einen halben Kopf. Zu meinem 23. Geburtstag schenkte er mir auch noch eine Flasche Pflanzendünger. Auf der Karte stand liebevoll, ich solle damit duschen, dann würden aus den 156 cm vielleicht noch ein bisschen mehr.
Die Ausbildung in der Bank war allerdings auch nicht wirklich erbaulich. Die jungen Frauen an der Kasse waren auch nur geringfügig älter als ich und in den Pausenzeiten oder vor der Öffnung blieb immer noch viel Zeit über Privates zu reden. Außerdem haben mehrere junge Frauen auf einem Haufen immer die Angewohnheit extrem viel zu tratschen. Ich erfuhr mehr über das, was sie im Bett mit ihren Kerlen anstellten, als mir lieb war und fast jeden zweiten Tag hörte ich die Frage, ob ich mir auch einen angelacht hatte. Natürlich hatte ich nie einen Freund an meiner Seite. Was sollte ich auch mit einem. Ich empfand sie als abstoßend und es wäre mir im Traum nicht eingefallen mit einem etwas anzufangen. Brüste zogen mich magisch an, vor allem wenn die Dame, die sie vor sich hertrug, auch optisch eine Augenweide war. Aber ich war überaus vorsichtig, damit keine meiner Kolleginnen mitbekam, dass mich nur das eigene Geschlecht anzog.
Kurz vor Karstens 14. Geburtstag wurde auch er schwer verletzt. Er hatte sich in eine jüngere Mitschülerin verliebt und an einem Septembermorgen in der Schule ihr das auch gesagt. Eigentlich erwartete man ja nur zwei mögliche Reaktionen. Entweder wurde man abgewiesen oder das Mädchen empfand auch etwas Zuneigung. Er erlebte aber eine dritte Option, mit der niemand gerechnet hatte. Während der Sommerferien waren die beiden fast unzertrennlich gewesen. Ständig trieben sie sich zusammen in der Stadt herum, waren Schwimmen und kletterten auf die Kirschbäume, die es damals noch gab. Einen ganzen Monat lang war es fast unmöglich ihn alleine anzutreffen. Als er ihr aber seine Liebe gestand, brachte ihm das eine heftige Ohrfeige ein. Dann hat sie ihn einfach stehen lassen und ist fluchend verschwunden. Der Korb war also mehr als deutlich, aber sie hatte noch etwas viel Gemeineres für ihn auf Lager. Sie beachtete ihn nicht mehr. Selbst als er noch einmal versuchte, mit ihr zu reden, behandelte sie ihn wie Luft. Meine Erfahrungen auf dem Gebiet der Liebe waren mit nicht vorhanden noch sehr wohlwollend umschrieben. Allerdings war es nicht ungewöhnliches in jungen Jahren und es hieß, man solle einfach einige Wochen warten und dann wäre das Thema erledigt, weil die nächste schon auf einen jungen Mann wartete. In seinem Fall allerdings half auch eine Wartezeit von sechs Monaten nicht. Ich versuchte, ihn zu trösten, aber das war vergeblich. Sie war weg und er konnte nicht aufhören sie zu lieben. Daran zerbrach er immer weiter. Von dem einstigen so fröhlichen Jungen blieb nur noch ein weinendes Häufchen zurück.
Aber auch bei mir lief es nicht mehr rund. Das Getuschel der Kolleginnen in der Bank wurde immer lauter. Es war viel zu ungewöhnlich, für eine Frau mit 24 Jahren noch nie mit einem Mann an der Hand gesehen worden zu sein. Die Vermutungen nahmen immer mehr zu. Auch meine Dementis änderten daran nichts mehr. Aber was hätte ich auch machen sollen? Mir irgendeinen zu suchen, der in mir weder etwas auslöste noch das ich ihn, als angenehm empfand und ihm etwas vorspielen? Mit Gefühlen spielt man nicht, den besten Beweis sah ich dafür in meiner Wohnung mit Karsten. Er war schon lange nicht mehr das, was er vor diesem Mädchen war. Aber je länger ich darauf hoffte, das Ganze würde sich mit genügend Zeit im Sand verlaufen, wurde es immer schlimmer. In den freien Minuten war das schon längst zum beliebtesten Thema avanciert. Jeden Tag hörte ich eine neue Geschichte, die durch die Bank wanderte.
Karsten brauchte dringend Abstand zu seinem gewohnten Umfeld. Seine Mutter, die mich noch immer als den Antichristen ansah, konnte nicht einmal etwas dagegen tun. Er packte ein paar Sachen zusammen und zog vorübergehend zu mir. Trotzdem wurde er nicht mehr der Alte. Karsten hatte seinen Lebensmut völlig verloren. So weit es mir möglich war, versuchte ich ihn etwas abzulenken, aber es war verdammt schwer ihn auf andere Gedanken zu bringen. Es war einfach nichts mehr da, auf das ich hätte aufbauen können. Auch meine Jungs halfen mit, ihn wieder ein bisschen in die Spur zu bekommen. Sie waren in diesen Dingen einfach viel erfahrener als ich. Viel gebracht hat es aber nicht.
Mit der Zeit wurde es bei mir auf der Arbeit zu einer richtigen Hexenjagd. Diese dauernden Verdächtigungen und Aussagen meiner Kolleginnen kratzten zunehmend an meiner Lust, dort zu arbeiten. Es wurde höchste Zeit für eine andere Strategie. Hilfreich war in dieser Zeit ausgerechnet Karsten, der mit seinen eigenen Dämonen zu kämpfen hatte. Er animierte mich einfach die Flucht nach vorne anzutreten. Also keine Dementis mehr, sondern einfach nur noch Zustimmung. Egal, was sie auch vermuteten. Mehr als schiefgehen konnte es ja nicht. Danach gab ich ihnen einfach recht. Was sie auch sagten, bestätigte ich einfach nur noch. Auf einmal war ich nicht nur lesbisch, arbeitete am Wochenende auf dem Strich, hatte ein eigenes Bordell und nahm mehr Drogen zu mir als eine komplette Rockband. Bluffen war ja nicht mein Problem. Durch meine Krankheit konnte ja niemand an meinem Gesicht ablesen, ob ich auch wirklich die Wahrheit sagte.
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