Sogar die letzten Affen kamen aus ihren Löchern gekrochen und beleidigten mich auf das Übelste. Damals dachte ich noch, es würde vielleicht ein oder zwei Tage dauern, bis sie sich wieder beruhigen würden und mich in Ruhe ließen, aber auch nach einigen Wochen änderte sich nichts daran. Ich war bis zu meinem Abschluss das bevorzugte Opfer aller Attacken. Das bezog sich aber nicht nur auf die Schule, denn im Privaten ging es direkt weiter. Dass man mich nur noch als die Kranke bezeichnete, setzte sich die restliche Schulzeit fort. Ich durfte jede Woche an zwei Tagen nach der Schule zu einem Psychologen wandern, der mich heilen wollte. Abnormal war noch die harmloseste Bezeichnung, die ich zu hören bekam.
Meine Mutter zu Hause stand meinen Peinigern in nichts nach. Essen durfte ich alleine. Meine bis dahin liebevolle Mutter weigerte sich beharrlich, ihren Tisch mit einer Irren zu teilen. Es dauerte auch nicht mehr besonders lange, bis ich mir mein Essen selbst machen musste. Das fand seine Fortsetzung darin, dass ich meine Wäsche und alles andere alleine machen durfte. Ich war für meine Erzeugerin nur noch ein Klotz am Bein und sie ließ mich das auch jeden Tag spüren. Mein Taschengeld bekam ich einmal im Monat in einem Briefumschlag, den sie mir wie eine schlechte Angewohnheit auf dem Küchentisch liegen ließ.
Auch meine sonstige Einnahmequelle, die Babysitterabende bei Karsten im Nachbarhaus fielen weg. Seine Mutter wollte ihren Sohn nicht einer kranken Lesbe überlassen. Der Kleine selbst hatte aber an mir schon einen Narren gefressen. Er beschwerte sich lautstark über jede andere, die man ihm vor die Nase setzte. Ihm war es als Einzigem egal, ob man mich als krank bezeichnete. Der kleine Karsten, dieser Goldschatz, zeigte allen anderen, dass ich nur eine einfache junge Frau war, die nichts Böses getan hatte. Er war zu der Zeit noch im Kindergarten einige Straßen weiter und kannte meine Zeiten wann ich, wo anzutreffen war. Immer wieder drehte er es so, dass er genau dann auf dem Spielplatz seiner Mutter entwischte, wenn ich auf dem Weg nach Hause war. Dann rannte er, so schnell er konnte auf mich zu und drückte mich an sich. Das waren die einzigen schönen Momente, die ich noch hatte.
Dieses ganze Elend ertrug ich klaglos über ein Jahr. Meinen 15. Geburtstag feierte ich völlig alleine in meinem Zimmer auf dem Bett. Von meinem Taschengeld hatte ich mir ein Stück Kuchen geleistet, eine Kerze angezündet und den ganzen Nachmittag ein bisschen Musik laufen. Meine Erzeugerin, die betrunken auf dem Sofa vor der viel zu lauten Flimmerkiste lag, hielt es nicht für nötig einen Ton zu mir zu sagen. Ihre einzige Tochter hatte Geburtstag und ihr war es vollkommen egal. Sie ließ auch keine Gelegenheit aus, mir immer wieder Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Selbst an meinem Ehrentag bezeichnete sie mich noch als menschlichen Abfall, den sie besser abgetrieben hätte.
Als ich dann alleine in meinem Zimmer saß und meinen Kuchen anstarrte, der mir nicht schmecken wollte, traf ich einen Entschluss. Ich war jetzt 15 Jahre alt, machte meine Hausarbeit alleine und musste mich, so gut es ging selbst versorgen. Was sollte mich also noch hier halten? Eben, es gab nichts mehr, was mich noch an diesem Ort festhielt. Meine Erzeugerin lag sowieso nur noch im Alkoholrausch auf dem Sofa herum und überließ mich mir selbst. Wieso sollte ich mir das eigentlich noch länger antun. Sie gab mir ja sowieso nur noch zu verstehen, dass ich unerwünscht war. Ich öffnete meinen Schrank und begann eine kleine Inventur. Die Kleidung, die ich hatte, packte ich in eine Tasche und meine persönlichen Wertgegenstände und kleine Erinnerungen, die ich behalten wollte, landeten in einer Tüte. Beides legte ich neben meine Schultasche und legte mich dann schlafen.
Am nächsten Morgen ging ich wie jeden Tag zur Schule, ließ mich wieder beleidigen und anfeinden, bis meine Stunden abgelaufen waren. Dann schrieb ich einen Zettel für den kleinen Karsten und machte mich auf den Weg. Ich wusste, dass er an diesem Tag auf mich am Spielplatz wartete. Wie immer rannte er fröhlich auf mich zu und schloss mich in die Arme. Ich sah dem Jungen tief in die Augen und steckte ihm meine Nachricht zu. Er verstand erst nicht, was das sollte, aber ich erklärte ihm, dass auf diesem Zettel meine neue Adresse stand. Karsten machte große Augen und hatte Angst mich nicht wieder sehen zu können. Er war aber der Einzige, den ich nicht alleine lassen würde. Karsten versprach mir, niemandem zu erzählen, wo ich war, und ich versprach ihm immer wieder an der Schule auf ihn zu warten. Dort hatten wir viel mehr Zeit und er brauchte nicht seiner Mutter zu entwischen.
Als ich wieder in die Wohnung kam, stank es wie immer nach Bier und billigem Fusel, den meine Erzeugerin in rauen Mengen in sich hineinschüttete. Die Begrüßung ließ nicht lange auf sich warten. Der menschliche Abfall, also ich, sollte verschwinden. Sie wusste gar nicht, wie schnell sich dieser Wunsch erfüllen sollte. Ich ging nur kurz in mein Zimmer, nahm meine Tasche und die Tüte und blickte noch ein letztes Mal an die Wand meines Kinderzimmers. Dann verließ ich die Wohnung und machte mich auf zu meiner neuen Adresse. Das war ein altes Abbruchhaus, das schon seit ich noch Windeln trug, etwas abgelegen stand. Irgendwann hatten wir das mal erkundet und es sollte meine neue Bleibe werden.
Betreten konnte man es nur über ein Loch in der Außenmauer. Die Fenster waren mit Farbe beschmiert und im unteren Stockwerk roch es muffig und deutlich nach Urin. Im oberen Stockwerk gab es einige Zimmer, in denen Obdachlose hausten. Die Räume, die leer standen, hatte ich mir schon einmal angesehen. Meine Wahl fiel auf ein kleines Zimmer an der westlichen Ecke mit einem Ausblick auf den verwilderten Garten hinter dem Haus. Dort begann ich mich häuslich einzurichten. Ein Obdachloser sah mir dabei interessiert zu und fragte mich, was ich denn hier wollte. Ich erklärte ihm, dass ich ab sofort in diesem Zimmer wohnen würde. Lothar, so nannte er sich, wollte mir erst nicht recht glauben, aber als er sah, dass ich mir eine Decke als Nachtlager ausbreitete und meine Schulsachen in die Ecke stellte, war er überzeugt.
Wir unterhielten uns noch einige Stunden. Er war sehr nett zu mir und sparte nicht mit guten Ratschlägen. Angst wäre hier nicht besonders hilfreich. Ich erklärte ihm ausführlich, dass ich unempfindlich für Angst war. Meine Krankheit Alexithymie verhinderte ein Angstempfinden. Aber es gab auch Erfreuliches zu hören. Ein anderer Obdachloser, der Harry hieß, und noch bis vor einigen Monaten hier gelebt hatte, war ein ehemaliger Elektriker und sorgte in einer Nacht und Nebelaktion dafür, dieses Haus wieder mit Energie zu versorgen. Heißt in meiner neuen Wohnung gab es sogar ein bisschen Strom für Licht und einen gemeinschaftlichen Herd, den sie vom Sperrmüll besorgten. Nur Wasser war ein kleineres Problem. Das musste über Kanister von einem Brunnen in der Stadt besorgt werden. Je länger ich mit Lothar redete, umso wohler fühlte ich mich in meiner neuen Bleibe.
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