Die erste Nacht war noch etwas unbequem und kühl. Schlaf bekam ich nicht gerade viel. Draußen war es bereits kurz vor Mittag, als ich mich aus meiner Decke schälte und in den Garten sah. Es war Anfang März und die Sonne war noch nicht stark genug für ein bisschen Wärme zu sorgen. Lothar war bereits wieder wach und rauchte einen scheußlich riechenden Zigarillo. Ich bat ihn, auf meine Sachen aufzupassen, während ich weg war. Er beruhigte mich mit der Aussage, dass hier nichts wegkommen würde, trotzdem nahm ich die Tüte mit meinen Wertsachen vorsichtshalber mit. Ich hatte eine dringende Verabredung mit dem kleinen Karsten und wollte ihn nicht enttäuschen. Gerade noch rechtzeitig erreichte ich die Grundschule, bevor der Unterricht zu Ende war. Als er mich vor dem Schulhof warten sah, blitzten seine blauen Augen. Seine Tasche mit den Schulsachen ließ er einfach fallen und rannte zu mir.
Auf der Steintreppe redeten wir länger miteinander. Er wollte wissen, was ich vorhatte und warum ich jetzt woanders wohnen würde. Ich versuchte, es ihm so gut wie möglich zu erklären. Für ihn war ich immer noch die große Catharina und er konnte nicht verstehen, warum mich alle für krank hielten. Das Problem war, dass ich es ihm selbst nicht richtig erklären konnte. Ich erzählte ihm, dass ich meine Freundin Emma geküsst hatte, und darauf die Hölle über mich hereinbrach. Für Karsten war das ganz normal. Mit seinem kindlichen Gemüt erklärte er mir, das es doch ganz normal sei, jemanden zu küssen, wenn man ihn mag. Welches Geschlecht spielte doch dabei überhaupt keine Rolle. Er küsste mich ja auch, weil er mich mochte. Er konnte noch nicht begreifen, was jetzt so schlimm an einem Kuss war. Ich begleitete ihn noch fast bis nach Hause. Dann machte ich mich wieder auf den Weg zu meiner neuen Behausung.
Dort wartete bereits Lothar mit einigen Freunden auf mich. Sie alle wollten die neue junge Bewohnerin kennenlernen. Sie waren alle überaus nett zu mir. Wilfried, ein anderer Bewohner des Hauses, versuchte zu erfahren, was mich in diese Gegend verschlagen hatte. Ich versuchte, ihm nur ein bisschen meiner Situation zu erklären, aber das genügte ihm nicht. Ihm war nur aufgefallen, dass ich ganz anders war als die anderen jungen Frauen, die sich sonst mal hierher verirrten. Es hatte keinen Zweck ihnen etwas vorzumachen. Sie waren schon viel zu alt und erfahren genug um mich aus der Reserve zu locken. Also begann ich zu berichten, was es mit meiner Flucht auf sich hatte und wie sich alles so weit entwickelte, bis ich schließlich hier in der Runde der alten Männer landete. Lothar begann laut zu lachen und die paar Zahnstummel in seinem Mund wackelten schon bedenklich. Jeder Einzelne von ihnen konnte mich nur zu gut verstehen. Nils, ein etwas jüngerer Bewohner, verdrückte ein paar Tränen. Er begann mich darüber aufzuklären, dass er, ebenso wie ich die fast gleiche Tortur überstehen musste. Sein Problem war aber seine Sprache. Man verhöhnte ihn Zeit seines Lebens als Stotterer. Es war ihm nicht möglich, langsamer zu sprechen, was dann den Sprachfehler bei ihm auslöste. Draußen wurde es bereits wieder langsam hell. Anstatt zu schlafen, hatten wir uns in der Runde angeregt unterhalten.
Aber die alten Männer versuchten auch nicht, mir meinen Weg auszureden. Sie unterstützen mich eher, meldeten aber einige Bedenken an. Ich war noch jung und unerfahren. Abstreiten konnte ich das schlecht als jugendliche mit 15 Jahren. Sie schlugen mir einen anderen Weg vor. Ich sollte erst einmal hierbleiben, aber trotzdem irgendwie meine Schule zu Ende bringen. Das Leben auf der Straße war, besonders in den Wintermonaten nicht gerade angenehm und viele sind schon daran gestorben. Darüber hatte ich mir in meinem blöden Kopf natürlich keine Gedanken gemacht. Der Frühling hatte gerade erst begonnen und dann käme der Sommer, aber spätestens im Oktober würde es wieder empfindlich kalt werden. Zumindest nachts war es im Spätjahr nicht gerade angenehm. Aber ich hatte ja meine Schulsachen bei mir, damit könnte ich ja lernen, ohne in die Schule zu müssen. Ich wollte es möglichst vermeiden, wieder den ganzen Tag beleidigt zu werden, nur weil mich mein eigenes Geschlecht anzog und mich von einigen Psychologen davon heilen zu lassen.
Wilfried zeigte mir dann einen anderen Weg auf. Ich sollte einfach nach den Sommerferien eine andere Schule besuchen. Meine neuen Freunde würden mir dabei helfen. Nils, der ungefähr so alt wie meine Erzeugerin war, würde sich als mein Vater ausgeben und das Aufnahmegespräch an der anderen Schule bestreiten. Alles, was wir dafür besorgen mussten, waren ein paar anständige Klamotten und ein bisschen Geld. Duschmittel könnte auch nicht schaden und einen vernünftigen Haarschnitt warf ich noch in die Runde. Meine neuen Freunde mussten lachen. Es war nicht einfach, seine Kleidung in Ordnung zu halten und regelmäßig zu duschen, solange es draußen noch kalt war. Hätte mir auch selbst einfallen können. Lothar bot sich an, Nils die Haare zu schneiden. Er konnte damit umgehen und brauchte nur einen vernünftigen Kamm und eben eine gute Schere. Die hatte ich aber zum Glück schon bei meinen Schulsachen.
Ich würde dann bis Ende der Woche nicht mehr in die Schule gehen, einen Entschuldigungszettel schreiben, weil ich erkrankt war und dann dieses Schuljahr noch überstehen müssen. Nur auf die Milch und das Brötchen auf dem Pausenhof musste ich verzichten. Taschengeld bekam ich ja nicht mehr, aber Lothar und die anderen würden mich schon noch irgendwie ernähren können. Sie bekamen über das Sozialamt einen gewissen Tagessatz an Geld. Kochen war ja in unserer Wohnung eingeschränkt möglich und Wilfried konnte auch damit ein bisschen umgehen. Nur musste ich das alles noch Karsten beibringen. Eigentlich wollte ich ihn ja nach der Schule täglich besuchen und mich mit ihm unterhalten. Immerhin war er der Einzige, der zu mir hielt und mich nicht verurteilte. Das war ich ihm einfach schuldig.
Karsten war mir nicht böse, wenn ich nicht jeden Tag vor der Schule auf ihn wartete. Seine einzige Frage war, auf welche Schule ich dann gehen würde. Das hatte ich aber noch nicht entschieden und musste ihn vertrösten. Obwohl er gerade mal in der ersten Klasse der Grundschule war, verstand er mich besser als jeder andere. Der Kleine war einfach großartig. Für diese eine Woche, die ich mir freigenommen hatte, durfte er sich aber täglich auf meine Besuche freuen. Karsten freute sich jeden Tag aufs Neue, wenn er mich da vor seiner Schule stehen sah. Er war zwar nur der Sohn meiner ehemaligen Nachbarin, aber in meinen Augen war er so was wie ein kleiner Bruder, der für alles, was ich machte, Verständnis aufbrachte.
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