Die nächste Woche begann für mich wieder der blanke Horror. Ich ließ Nils eine Entschuldigung für mein Fehlen schreiben und fälschte die Unterschrift meiner Erzeugerin. Meine Lehrerin akzeptierte den Zettel nach einem kurzen Blick und kümmerte sich dann um den Unterricht. In der Zwischenzeit hatte ich mich in dem Abbruchhaus schon eingelebt. Nur das Waschen, morgens bevor ich losmusste, war schrecklich. Ich hatte zwar das Badezimmer für mich alleine, aber das Wasser war eiskalt. Der Frühling hatte entschieden, noch ein bisschen länger auf sich warten zu lassen. Nachts lagen die Temperaturen nur leicht über dem Gefrierpunkt und das Wasser, das in dem Kanister im Badezimmer stand, könnte auch im Kühlschrank stehen. Ich verzichtete aus gutem Grund darauf, die Haare täglich zu waschen. Auf dem Schulweg hatte ich jedes Mal danach das Gefühl, als würden sie mir abfrieren. Allerdings waren meine Männer furchtbar lieb zu mir. Sie versuchten wirklich alles mir die Tage so angenehm wie möglich zu machen.
Wenn ich nach dem täglichen Horrortrip wieder nach Hause kam, stand Wilfried schon am Herd und hatte etwas zu essen für mich fertig. Nils und die anderen sparten von ihrem täglichen Geld vom Sozialamt immer wieder kleinere Beträge, damit ich mir auf dem Schulhof eine Milch kaufen und einmal in der Woche in einem Waschsalon meine Kleider waschen konnte. In der freien Woche war ich noch einmal in meinem früheren Umfeld, als meine Erzeugerin bei der Arbeit war. Ich nahm meinen Radiowecker mit, plünderte den Kühlschrank und suchte mir ein bisschen Geld zusammen, was sie in ihrem Schrank versteckt hatte. Außerdem genoss ich eine warme Dusche. Wenn ich schon mal da war, konnte man das auch ausnutzen. Dann fiel mir ein, dass ich nur ein Handtuch eingepackt hatte, als ich so überstürzt verschwunden war. Also steckte ich noch ein paar weitere ein und ließ den Föhn auch noch in meiner Tasche verschwinden.
Für ein paar Wochen ging es uns richtig gut. Lothar hatte sogar genug Geld zusammengespart, damit wir uns einen Wasserkocher kaufen konnten. Ab da konnte ich mich vor der Schule mit warmem Wasser waschen und brauchte die Haare nicht auszusparen. Allerdings brauchten wir ein bisschen mehr Geld. Ich konnte nicht die Männer in die Pflicht nehmen. Sie taten schon mehr als genug für mich. Ich musste ihnen ja auch mal was spendieren. Immerhin lebte ich ja nur auf ihre Kosten. Ich besorgte mir einen kleinen Job und verteilte donnerstags eine lokale Zeitung. Das brachte auch deutlich mehr Geld ein als mein früheres Taschengeld und den Nebenverdienst als Babysitterin für Karsten.
In den Sommerferien bereiteten wir uns auf den Besuch in der neuen Schule vor. Nils hatte neue Klamotten, einen vernünftigen Haarschnitt und war frisch rasiert. Seit wir genug warmes Wasser hatten, wuschen sich auch die Männer. Nur Wilfried verzichtete darauf, das Badezimmer zu benutzen. Er hatte eine andere Möglichkeit für sich gefunden. Hinter unserem Haus war versteckt zwischen einigen Bäumen ein Teich. Immerhin war es ja Hochsommer und er benutzte den kleinen Tümpel einfach als seine Badewanne. Das Aufnahmegespräch mit dem Schulleiter der neuen Schule lief problemlos und nach den Sommerferien war ich dann meine alte Schule los.
Durch meine Arbeit und das Geld, was ich dafür bekam, ging es uns richtig gut. Wir hatten es uns sogar richtig gemütlich eingerichtet. Ich fühlte mich richtig zu Hause. Die Männer um mich herum verhielten sich vorbildlich. Während der Ferien war ich auch viel mit Karsten unterwegs. Wir waren zusammen im Freibad und in der Eisdiele. Aus dem kleinen Bruder wurde langsam mein bester Freund, auch wenn er zehn Jahre jünger war als ich. Je älter er wurde, umso einfacher war es auch, uns zu treffen.
In der neuen Schule verzichtete ich darauf, irgendwas über mich preiszugeben. Es dauerte auch nicht lange, bis ich wieder Anschluss gefunden hatte. Doch nach weniger als einem Jahr ging es wieder von vorne los. Ich hatte keine Ahnung, wie es in der neuen Schule jemand in Erfahrung bringen konnte. Ich war in einem anderen Stadtviertel, niemand kannte mich in der Schule und aller Vorsicht zum Trotz begann meine Tortur wieder von Neuem. Meine neuen Mitschüler übernahmen sogar die alten Schimpfworte. Ich war wieder komplett niedergeschlagen, als ich aus der Schule kam. Wilfried sah es mir auf Anhieb an und statt etwas zu essen gab es ein intensives Gespräch. Erneut war ich wieder alleine. Über Umwege kam ich dem Geheimnis auf die Spur. Eine meine Mitschülerinnen verbrachte ihre freie Zeit außerhalb von Bochum auf einem Reiterhof, auf der zufällig auch eine meiner ehemaligen Freundinnen reiten lernte. Diese beiden kamen untereinander auch ins Gespräch und stellten fest, dass ich von der einen Schule auf die andere gewechselt bin. Wenigstens blieb das andere Geheimnis im Dunkeln. Meine Erzeugerin kam nicht einmal auf die Idee nach mir zu suchen. Ihr war es auch völlig egal, wo ich jetzt lebte und was ich aus meinem Leben machte. Sie war glücklich, mich los zu sein, und verschenkte ihr Leben an den Alkohol. Das Letzte, was ich von ihr erfahren habe, war, dass sie sturzbetrunken bei der Arbeit erschien und daraufhin gekündigt wurde. Dann lag sie nur noch auf ihrem Sofa und hat getrunken. Gesehen habe ich sie dann nicht mehr.
Meine Männer gaben mir so viel Rückhalt, um das letzte Schuljahr noch zu überstehen. Trotzdem kamen in mir selbst immer wieder Zweifel auf, warum ich mir das überhaupt noch antun sollte. Was hatte ich denn davon? Egal wohin ich auch in Bochum wechseln würde käme es über kurz oder lang wieder zu einem verdammten Zufall und das ganze begann gerade wieder. Trotz aller Widrigkeiten machte ich meinen Abschluss und suchte mir eine Lehrstelle. Vorsichtshalber aber in einem ganz anderen Stadtviertel, weit weg von dort wo ich aufwuchs. Da ich gut mit Zahlen umgehen konnte, entschied ich mich zu einer Ausbildung als Bankkauffrau.
Der Weg zu meiner Arbeitsstelle war extrem lang und ich brauchte dafür dringend eine annehmbare Lösung. Lothar brachte mich auf die Idee ein oder zwei Monate den weiten Weg, in Kauf zu nehmen und mir in dem neuen Stadtviertel eine günstige Wohngelegenheit zu suchen. Es fiel mir schwer, die Jungs alleine zu lassen. Sie waren wie eine Ersatzfamilie für mich geworden und ich hatte ihnen viel zu verdanken. Aber sie erklärten mir, dass es nicht um sie ging, sondern um mich und mein Leben. Sie kämen auch ganz gut ohne mich und die finanzielle Unterstützung zurecht. Ich ließ mir von ihnen versprechen, dass sie mich hin und wieder besuchen würden. Es war ein schwerer Schritt in die Unabhängigkeit und die Einsamkeit. Zum ersten Mal in meinem Leben wohnte ich ganz alleine in einer kleinen Wohnung mit nur einem Zimmer. Das Geld meiner Ausbildung reichte gerade so, um mich über Wasser zu halten. Um ein bisschen mehr Geld zu haben und mir auch mal etwas leisten zu können fing ich an für einen Prüfungsnachweis nach § 34a der Gewerbeordnung zu lernen. Damit war es mir dann möglich, trotz meiner geringen Größe am Wochenende im Sicherheitsdienst zu arbeiten. Also lernte ich tagsüber in der Bank meinen Job und am Wochenende arbeitete ich dann abends bis in die Nacht hinein im Sicherheitsdienst einer Diskothek.
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