Kurz vor meinem vierzehnten Geburtstag wusste ich so ziemlich alles über menschliche Fortpflanzung, aber nichts über meine Gefühle zu Emma. Ihr fiel das aber, aufgrund meiner Krankheit, auch nicht auf, was ich für sie empfand. Ich durfte also weiter träumen, sie wie zufällig berühren und in den Arm nehmen. Um mir mehr Geld zu verdienen, weil mein Taschengeld sehr begrenzt war, durfte ich an Wochenenden auf den vierjährigen Sohn unserer Nachbarn aufpassen. Der kleine Karsten war ein quirliger Bursche. Wenn seine Eltern unterwegs waren und ich auf ihn aufpassen durfte, um mir ein paar Mark dazuzuverdienen war ein richtiger Sonnenschein. Er freute sich jedes Mal, wenn er mich an der Tür sah. Er wusste, dass seine Eltern lange weg waren, und freute sich auch darauf, viel länger, als gewöhnlich, wach bleiben zu dürfen.
Seine Eltern durften davon natürlich nichts erfahren, aber Karsten war clever und verlor keinen Ton davon. Wir machten viele Gesellschaftsspiele, versuchten uns an einigen Puzzles, deren Teile mit mehr Erfahrung auch kleiner wurden und spielten Karten. Dann machten wir es uns auf der Couch gemütlich und sahen fern. Irgendwann konnte er einfach nicht mehr die Augen offen halten und schlief ein. Dann hab ich ihn ganz vorsichtig in sein Bett getragen und zugedeckt. Seine Mutter war immer glücklich, wenn ich auf ihn achtete. Ihr raubte er den letzten Nerv mit seiner ständigen Fragerei und seinem Rumgerenne in der Wohnung. Mir machte das nicht das Geringste aus. Aufregung war für mich ein Fremdwort, das schaffte auch der Kurze nicht. Mir machte das sogar Spaß, auf ihn aufzupassen und die paar Mark, die ich dafür bekam, waren mir auch sehr recht.
Am 10. März, meinem vierzehnten Geburtstag trafen meine Freundinnen bei mir zu Hause ein. Meine Mutti hatte an diesem Tag gnädigerweise sogar auf Alkohol verzichtet, um nicht als schlechte Mutter dazustehen und sogar einen Kuchen für mich gebacken. Emma, die sowieso fast jede freie Minute mit mir verbrachte, war die Erste, die bei mir in der Tür stand. Sie schenkte mir einen selbst gebastelten Kalender und eine Musikkassette, die sie extra für mich gekauft hatte. Da wir alleine waren und ich mich dafür bedanken wollte, drückte ich sie an mich und gab ihr sogar einen kleinen Kuss auf die Wange. Sie schrieb diese große Gefühlsregung meinem Geburtstag zu und dachte sich nichts weiter dabei. Für mich allerdings war es etwas völlig anderes. Emma war für mich mehr, als nur eine Freundin, wie sie jedes Mädchen in dem Alter hat. Auch die anderen Gäste trafen nach und nach ein. Wir hatten viel Spaß und feierten ausgelassen meinen Geburtstag.
Der Tag sollte aber für mich noch etwas ganz Besonderes werden. Da ich wusste, dass Emma die Letzte sein würde, weil sie den kürzesten Weg nach Hause hatte, wollte ich sie endlich küssen. Nach und nach gingen die anderen, bis Emma und ich wieder alleine waren. Wir saßen in meinem Zimmer auf dem Bett, hörten ein bisschen Musik von der neuen Kassette und blätterten in einer Zeitschrift. Ich spürte sie ganz eng neben mir und bekam langsam den Mut, den ich brauchte. Nach einigen Minuten schenkte sie mir einen wirklich aufregenden Blick aus ihren grünen Augen. Ohne noch weiter zu zögern, zog ich sie näher zu mir und küsste ihre Lippen. Allerdings hielt das Glücksgefühl in meinem Innern nicht besonders lange an. Sie wich zurück, machte ein erschrockenes Gesicht und rannte dann zur Tür hinaus. Das erste Mal in meinem Leben hatte ich ihr gegenüber meine Gefühle gezeigt und sie ließ mich alleine.
Damit begann aber ein ganz anderes Drama, von dem ich noch keine Ahnung hatte, wie sehr es mich verletzen würde. Am nächsten Tag, vor der Schule wartete ich wie immer auf meine beste Freundin Emma. Ich erkannte sie schon von Weitem, aber sie lief, ohne mich eines Blickes zu würdigen, an mir vorbei ins Schulgebäude. Was am Tag zuvor noch meine beste Freundin war, ließ mich jetzt einfach stehen. Ich lief ihr hinterher und rief mehrfach ihren Namen. Sie beachtete mich nicht mehr. Sogar in der Klasse, in der wir direkt nebeneinandersaßen, beachtete sie mich nicht mehr. Der schlimmste Schlag folgte aber erst noch. Als unsere Lehrerin hereinkam, meldete sich Emma als Erstes und bat darum, sich umsetzen zu dürfen. Mir tat das furchtbar weh, konnte es aber natürlich nicht zeigen. Der Tag sollte aber noch viel schlimmer werden, als ich mir das hätte ausmalen können.
In der großen Pause stand ich alleine mit meiner Milch und dem Brötchen auf dem Schulhof. Meine ganze Clique, meine Freundinnen tuschelten mit Emma und hielten sich von mir fern. Ich war den ganzen Tag alleine und meine Freundinnen zerrissen sich hinter meinem Rücken den Mund über mich. Schlimmer konnte es eigentlich nicht mehr werden, dachte ich bei mir. Aber bereits am nächsten Tag wurde ich eines Besseren belehrt.
Am 12. März erlebte ich meinen bis dahin schlimmsten Tag meines noch jungen Lebens. Vor Unterrichtsbeginn holte mich meine Klassenlehrerin von meinem Stuhl und brachte mich ins Lehrerzimmer. Der Gestank nach Kaffee und kaltem Rauch war abartig. In dem Raum hätte auch ein Affenkäfig aus dem Zoo nichts an der Luft ändern können. Vor mir saßen insgesamt vier Lehrer und der Direktor meiner Schule. Wie eine Strafgefangene wurde ich verhört, wie ich es hatte wagen können eine Mitschülerin zu küssen. Man beschimpfte mich als krank und abnormal. Diese fünf Erwachsenen vor mir redeten fast eine Stunde wie auf eine Schwerverbrecherin auf mich ein. Durch meine Krankheit zeigte sich natürlich keine Reaktion auf meinem Gesicht, was ihnen als Grund ausreichte, einfach weiter verbal auf mich einzuschlagen.
Jede andere wäre wie ein weinendes Häufchen in der Ecke gelegen und hätte darum gebetet endlich in Ruhe gelassen zu werden. Da sich auf meinem Gesicht absolut nicht die geringste Regung zeigte, von Reue oder einem schlechten Gewissen ganz zu schweigen, entschied man sich dazu, meine Mutter anzurufen und einen Termin für die kleine Catharina beim Schulpsychologen auszumachen. Meine Mutti fiel natürlich aus allen Wolken als man sie bereits morgens im Kaufhaus ans Telefon bestellte und ihr nahe legte ihre Tochter zum Psychologen zu schicken.
An Unterricht im klassischen Sinne war an diesem denkwürdigen Tag nicht mehr zu denken. Wer aber glaubt, dass Erwachsene die Schlimmsten sind und verbal auf junge Frauen einschlugen, hat noch nie die Gleichaltrigen kennengelernt. Sogar während des laufenden Unterrichts attackierten mich meine Mitschüler. Ganz vorne mit dabei meine beste Freundin Emma. Man glaubt gar nicht, wie schnell sich so etwas in der ganzen Schule verbreiten kann. Es dauerte gefühlt nur einige Sekunden, bis auch der letzte Schüler auf dem Schulhof über den kompletten Ablauf informiert war. Selbst die normalen Mobbingopfer, die es an jeder Schule gab, hatten an diesem Tag eine Auszeit und wurden in die Gemeinschaft aufgenommen. Ich war nur noch die kranke, völlig verrückte kleine Schlampe, die mit Vorliebe Mädchen küsst. Zu meinem besonderen Glück stellte sich auch noch die einzige Lehrkraft auf dem Schulhof, die als sogenannte Pausenaufsicht, Streitereien und Anfeindungen von Schülern untereinander unterbinden sollte, auf die Seite meiner größten Gegner.
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