Mutti schleifte mich als Nächstes zu meinem Kinderarzt. Der stellte mich einmal auf den Kopf, um danach festzustellen, dass mir nicht das Geringste fehlte. Körperlich war ich kerngesund. Aber wenn man gerade da war, spricht ja nichts dagegen das Kind gleich noch gegen irgendwas zu impfen. Also Spritze in die Hand, und dann rein damit in den Oberarm. Erst dabei fiel auch dem Arzt auf, dass mit dem Mädchen auf der großen Liege etwas nicht in Ordnung war. Jedes Kind reagiert zwar anders auf Spritzen und Nadeln in der Haut, aber eines haben sie alle gemeinsam, sie beginnen zu weinen. Nur das kleine Mädchen zeigte sich völlig unbeeindruckt und ließ alles ohne einen Ton über sich ergehen. Also gleich noch einmal. Nächste Spritze ab in die Armbeuge und ein bisschen Blut aus den Adern geholt. Aber auch hier zeigte ich keine erkennbare Reaktion.
Viele Ärzte später stand dann die Diagnose fest. Die kleine Catharina litt unter einer besonderen Krankheit, die man in Fachkreisen Alexithymie nennt. Umgangssprachlich nannte man das auch Gefühlskälte. Im alten Griechenland bezeichnete man es auch als Ataraxie, ein Zustand, in dem es einem völlig gleichgültig war, was um einen herum passierte. Catharina konnte man nicht aufregen, egal was man auch anstellte. Das war für die junge Mutter und die Großeltern ein großer Schock. Das nächste Problem sollte aber noch um einiges heftiger ausfallen. Ich brachte die ersten vier Jahre auf der Grundschule zu Ende und wechselte dann auf eine Gesamtschule, um noch mehr zu lernen.
Irgendwann begannen mich meine Mitschüler zu ärgern, merkten aber ziemlich schnell, dass es unsinnig war, so etwas zu versuchen. Das machte nur Spaß, wenn sich das Mädchen aufregte oder eine Reaktion darauf zeigte. Ich zeigte aber keine der allgemein üblichen Wirkungen darauf, sondern blieb völlig ruhig und entspannt. Auch konnte man an meinem Gesicht nichts ablesen, was auf Gefühle hindeutete. Das brachte also keinen Spaß für die anderen und man ließ mich in Ruhe. Trotzdem schaffte ich es irgendwann, Freundschaften zu schließen. Die Schule war mir eigentlich egal aber es machte mir Freude mich mit meinen Freundinnen zu unterhalten.
Meine Großeltern starben dann auch irgendwann kurz nacheinander und Mutti hatte eine Menge zu tun. Sie musste sich um die Beerdigungen kümmern und ich hörte sie sehr oft etwas tun, was mir nie passieren würde. Abends im Bett heulte sie die Kissen voll. Ich fühlte zwar auch Trauer um meine liebe Omi und den lustigen Opa, konnte es aber nicht zeigen. Meine Mutter machte das fast wahnwitzig. Während sie jeden Tag am Weinen war, zeigte ich nicht ein bisschen Mitgefühl. Innerlich zwar schon, aber an meiner Miene konnte man das nicht ablesen. Alles war wie immer für mich. Allerdings begann Mutti mit etwas anderem. Sie betäubte ihren Schmerz immer öfter in Alkohol. Nach der Arbeit begann sie Bier zu trinken und erst am späten Abend hörte sie wieder damit auf. Sie war zu dieser Zeit sehr launisch und auch nicht mehr wirklich gut auf mich zu sprechen. Ich war zwar noch ihre Tochter, aber sie zeigte mir eigentlich nur noch die kalte Schulter, schrie mich an wie ein Irre oder ignorierte mich einfach.
Die Wirkung auf mich beeinflusste das eigentlich kaum. Tief in meinem Inneren war es mir zwar nicht völlig egal wie sie mich behandelte, aber nach außen hin konnte ich es einfach nicht zeigen. Als ich dann älter wurde und sich langsam die Verwandlung vom Mädchen zur Frau einsetzte, fingen ganz andere Probleme an. Ich wusste einfach nicht, was mit mir los war. Meine Freundinnen in der Schule begannen sich langsam ihrem Alter entsprechend für die Jungs zu interessieren. Sie versuchten, mir zu entlocken, welcher Mitschüler mir gefiel. Ich konnte es aber nicht benennen. Da passierte einfach nichts. Die Mitschüler waren mir völlig egal. Es war keiner dabei der mich interessierte oder den ich irgendwie toll fand.
Meine Freundinnen gingen die ersten Beziehungen ein, machten ihre ersten zarten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht und ich stand wie ein Stein daneben. Die Jungs auf der Schule hielten auch einen gewissen Abstand zu mir. Es war einfach für sie nicht zu erkennen, ob ich irgendetwas für sie empfand. Einige versuchten zwar, bei mir zu landen, und machten sich dafür auch regelmäßig zum Affen, aber sie blitzten alle ab. Eine Freundin von mir hatte eine besondere Schwäche für jeden Einzelnen. Solange er einen geraden Satz herausbrachte, war sie von ihm begeistert. Dabei war es ihr auch völlig unwichtig, wie er aussah oder wie er sich benahm. Wenn da Testosteron durch die Blutbahn floss, war er für sie genau richtig. Mit mir passierte allerdings etwas völlig anderes. Ich begann meine wenigen Freundinnen auf einmal mit anderen Augen zu betrachten.
Das, was sie in den Jungs sahen, entdeckte ich im Stillen bei ihnen. Ich genoss es regelrecht, wenn wir uns zur Begrüßung in den Arm nahmen. Das war für mich im geheimen das Schönste am ganzen Tag. Sie bemerkten das natürlich nicht, denn mein Gesichtsausdruck war immer der gleiche. Eine davon gefiel mir besonders. Sie hatte sehr hübsche leicht grüne Augen und ein wundervolles Lächeln. Emma hieß sie und war erst seit Kurzem in Bochum. Ihre Eltern waren von Dortmund nach Bochum umgezogen, weil ihr Vater eine besser bezahlte Arbeit gefunden hatte. Ihr schien es auch nichts auszumachen, das ich ganz anders war. Während sich die anderen Freundinnen ihren geliebten Jungs widmeten, blieben wir beiden meist alleine zurück.
Im Laufe der Zeit wurde Emma meine beste Freundin. Wir sprachen über alles Mögliche, was die Mädchen und jungen Frauen damals interessant fanden. Musik, Mode, in ihrem Fall auch ein oder zwei Jungs, allerdings war sie viel zu schüchtern um sie anzusprechen. Es verging kaum ein Tag, an dem wir nicht wie zwei Glucken aufeinander saßen. Die Jungs fand ich nicht anziehend, dafür aber Emma. Mit der Zeit entwickelte ich sehr intensive Gefühle für meine Freundin. Immer öfter ertappte ich mich selbst dabei, davon zu träumen, sie einfach zu küssen. Das, was die Mädchen von ihren Freunden erzählten und wie sie sich dabei fühlten, traf in erschreckender Weise auf mich mit Emma zu. Das war alles völlig neu für mich und ich konnte es nicht zuordnen. Was stimmte mit mir denn nicht?
Während die anderen aus meiner Clique mit ihren Freunden erlebten, wollte ich mit Emma erleben. Ich hatte das dringende Bedürfnis, sie zu berühren, zu umarmen oder zu küssen. Die ganzen Jungs erzeugten dieses Gefühlschaos nicht in mir. Sie waren mir zusehends total egal. Meine Zeit verbrachte ich am liebsten mit Emma. Nach der Schule trafen wir uns bei ihr oder in der Stadt, hörten Musik oder kauften uns die Jugendzeitschriften, die man in dem Alter eben so liest. Schlauer wurde ich dadurch aber nicht. Alle Artikel in jeder Zeitschrift handelten von Frauen und Männern. Nirgendwo wurde mir erklärt, ob es diese Gefühle auch zwischen zwei Frauen oder Männern gab. War das einfach nicht vorgesehen oder sogar verboten? Ich versuchte mit meinen, damals noch begrenzten Mitteln irgendetwas, in dieser Richtung zu finden, aber auch die Bibliothek konnte mir meine Fragen nicht beantworten.
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