Aus Bochum kannte ich das anders. Die meisten Menschen kümmerten sich um ihre eigenen Belange, machten ein abweisendes Gesicht und reagierten beleidigt, wenn man ihnen eine Frage stellte. Die Antwort lieferte ausgerechnet das Kennzeichen meines Mietwagens. Oberhalb der Nummer stand darauf ›The friendly Island‹. Das erklärte auch warum alle Menschen die ich traf ausgesprochen freundlich waren. Überhaupt waren sie viel entspannter als die Bewohner meiner Heimatstadt. Ich folgte der Wegbeschreibung, sie ich von meinem Zeitungsverkäufer erhalten hatte und fand mich vor einem hell weißen Gebäude wieder, das in der Sonne glänzte. Darin fand ich aber nicht nur das Büro eines Maklers, sondern auch noch viele andere Geschäfte. Unter anderem eine Zoohandlung, einen zu klein geratenen Backshop und etwas, was ich bis dahin noch nie gesehen hatte, einen Telekommunikationsladen. Aber ich war wegen einer Wohnung hier. Für das Entdecken neuartiger Spielzeuge blieb noch genug Zeit.
Das Maklerbüro versteckte sich hinter einer dunklen Scheibe, neben der in einem Holzkasten einige Anzeigen aufgehängt waren. Ein kurzer Blick zeigte allerdings nur Häuser, die man für Summen kaufen konnte, die jenseits meines schmalen Budgets lagen. Ich betrat das Büro und sah mich zwei Schreibtischen gegenüber. Hinter dem rechten davon saß eine etwa 40-jährige Frau im Businesskostüm und blätterte in einem Ordner. Sie sah auf, und ich spürte sofort ihren prüfenden Blick auf mir. Es roch nach Papier und einem zarten Hauch eines eher holzigen Parfums. Die Dame erhob sich, kam mit einem freundlichen Lächeln auf mich zu und streckte mir ihre Hand entgegen. Sie bat mich Platz zu nehmen und fragte, womit sie mir helfen könnte. Blöde Frage, wahrscheinlich möchte ich Zigaretten kaufen und setzte mich deshalb zu einem Makler. Ich erklärte ihr kurz einige Eckdaten. Gesucht wurde eine kleine Wohnung oder ein Appartement, möglichst auf der französischen Seite der Insel, mit ein bisschen Einrichtung und für kleines Geld zur Miete. Mit jeder Bedingung wurde ihr Gesichtsausdruck ein wenig düsterer. An meinem Englisch erkannte sie, dass es nicht meine eigentliche Sprache war und fragte ganz direkt woher ich denn käme. Als ich ihr erklärte, dass ich bisher in Deutschland gelebt hatte und hier ein neues Leben anfangen wollte, wurde ihr Blick weicher und sie fing an zu grinsen. Zu meiner Verwunderung begann sie das Gespräch erneut, dieses Mal allerdings in meiner Muttersprache, mit deutlichem Akzent aus Berlin.
Man sollte es nicht für möglich halten, aber die Maklerin war vor Jahren schon aus Berlin Zehlendorf auf diese Insel gezogen und vertickte jetzt Wohnungen. Also erklärte ich ihr genau das was ich suchte erneut, allerdings in meiner Muttersprache. Sie erkannte meinen Dialekt und tippte auf Essen. Gar nicht weit weg geraten, dachte ich bei mir und nannte ihr Bochum als Heimatstadt. Sie nahm sich einen Block zur Hand und notierte die Angaben, die ich ihr gab. Computer gab es zwar schon, aber sie waren noch nicht so weit verbreitet. Auch in Deutschland in der Bank gab es damals noch keine. Die Sparbücher die ich schreiben musste wurden noch fein säuberlich von Hand geführt. Ich hasste es wie die Pest in diesen kleinen Heftchen zu schreiben und dann mit einem Lineal noch Linien zu ziehen. Sie griff sich einen dicken Ordner aus einem Regal und klappte ihn auf. Darin waren tausende Wohnungen aufgeführt. Zuerst nahm sie einen ganzen Stapel und schob ihn auf die andere Seite. Fast am Ende des Ordners waren wohl die Wohnungen, die meinen Anforderungen entsprachen.
Dann blickte sie auf, sah mir in die Augen und fragte: »Hast du heute noch was vor?«
Ich antwortete, »Nicht viel. Ganz oben auf meiner Liste steht eine bezahlbare Wohnung und wenn noch Zeit bleibt ein Fahrzeug.«
Sie notierte sich einige Daten auf ihrem Blatt, stand auf und sagte nur »Komm mit, wir finden eine Wohnung für dich!«
Wir verließen das Büro. Sie hängte ein Schild in die Tür, schloss ab und führte mich zu einem großen Geländewagen auf dem Parkplatz. Ich hatte doch einige Mühe auf den Beifahrersitz zu klettern. Dann saß ich endlich drin und sie startete den Motor. Den Blick den sie mir zuwarf, als ich meinen Gurt anlegte, konnte ich nicht einordnen. Sie lachte mich nur an und schüttelte den Kopf.
»Typisch Deutsch. Erst setzen und dann sofort den Gurt schließen. Das gewöhnst du dir ganz schnell ab.«
»Vorschrift«, erwiderte ich nur knapp.
»In Deutschland vielleicht, aber nicht hier. Keiner schnallt sich hier an und die Polizei interessiert es sowieso nicht.«
»Das hab ich bereits festgestellt als ich von Flughafen in mein Hotel gefahren bin. Aber wie kommt das?«
»Die Cops haben hier Besseres zu tun, als sich um den Verkehr zu kümmern. Es interessiert sie einen Scheiß, ob du mit 90 durch die Stadt jagst, angeschnallt bist oder so viel Alkohol geschluckt hast wie ein Kegelverein auf einem Ausflug. Solange du einen Führerschein hast, kannst du hier anstellen, was du willst.«
»Du verarschst mich doch!«
»Keineswegs. Du wirst den Verkehr bald kennenlernen. Und nur ein kleiner Tipp am Rande, du solltest es möglichst vermeiden freitags Nachmittags mit dem Auto unterwegs zu sein.«
»Okay, aber warum?«
»Freitags Nachmittags beginnt hier die Happy Hour. Die können weder gehen, noch sich artikulieren, aber fahren können sie noch. Mit den Blutproben könnte man eine Alkoholparty veranstalten. Die kippen sich mit Hochprozentigem zu, setzen sich in die Autos und machen sich auf den Heimweg. Dann sitzen sie zusammen und schießen sich ab. Das Wochenende verbringen sie dann im Delirium.«
Dann fuhr sie los und reihte sich in den fließenden Verkehr ein. Mitten auf offener Strecke bog sie in eine kleine Seitenstraße ab und beschleunigte. Das Schild zeigte eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 30 km/h an. Ein kurzer Blick auf den Tacho verriet mir aber, dass sie mit 80 Sachen durch die kleine Seitenstraße bretterte. Plötzlich bremste sie stark bis auf Schrittgeschwindigkeit herunter, überfuhr eine Bodenwelle, um dann wieder zu beschleunigen. Wie durch Zauberei veränderte sich das Aussehen der Straße. Die Mittelstreifen waren nicht mehr weiß, sondern leuchteten in einem tiefen Gelb und auch die Seitenstreifen färbten sich in den gleichen Farbton. Ihr kurzer Kommentar verriet mir, dass wir soeben die Grenze überquert hatten und jetzt in Frankreich waren. Eigentlich erwartete ich Schlagbäume und Zäune an einer Grenze, aber die gab es nicht. Ein Ortsschild am Rand gab den Namen des Ortes bekannt. Ich las ›Marigot‹ als wir vorbeiflogen. Das war also die Hauptstadt des französischen Teils der Insel. Das hatte ich bereits über meine neue Heimat gelernt. Aber auch hier gab es keine Ampeln. Interessantes Konzept wie ich fand. Die Maklerin steuerte den schweren Geländewagen über einige kleine Nebenstraßen und hielt dann vor einem schäbig aussehenden Haus.
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