Iska sah Sigmar an. „Es ist schwierig, Sigmar. Wer von meiner Familie sollte mich verheiraten, da niemand mehr da ist. Wer von meinem Dorf? Es ist so, ... so entgegen allen Regeln. Ich war Guntram versprochen, ihn sollte ich heiraten. Aber ich wollte nicht. Ich habe mich als Junge verkleidet und als wir in unser Dorf zurückkamen, da bestraften uns die Götter mit diesen Präfekten.“ Iska fühlte sich den Tränen nahe. „Die Götter straften nicht nur mich, sondern das ganze Dorf. Und das nur, weil ich nicht gehorsam war!“ Doch Sekunden später ging eine Wandlung mit dem Mädchen vor sich. Sie spuckte voller Wut aus. „Gaius Quintus Vulturius!“, stieß sie voller Zorn hervor und hob beide Fäuste zum Himmel. „Diesen Namen werde ich in meinem Leben nicht vergessen!“
Sigmar versuchte sie zu beruhigen: „Iska, wenn die Götter den Präfekten geschickt haben, so hat dies auch eine Bewandtnis! Die Götter werden dich nicht haben strafen wollen - die Götter haben vielleicht besondere Pläne mit dir!“
„Aber kann ich dich heiraten, Sigmar? Kann ich Kinder von dir empfangen? Was, bei Odin, haben die Götter dann mit mir vor? Liebend gerne würde ich dein Weib werden, Sigmar. Aber ist es dann recht getan? Oder würden die Götter diesmal einen Präfekten in euer Dorf schicken, weil ich gegen ihren Willen handele?“
„Iska, wir haben in unserem Dorf eine weise, alte Frau, die Seherin Yelva. Wir wollen sie nach unserer Rückkehr befragen. Es wird eine Lösung finden und in unserem Dorf kannst du ein neues Zuhause finden.“ Iska nickte. Die Entscheidung Sigmars erschien ihr sinnvoll. Warum sich jetzt zu viele Gedanken darüber machen? Doch der Gedanke Sigmars Frau zu werden, stimmte sie irgendwie heiter.
Fast unbemerkt überzog sich der Himmel mit Wolken und als sie jetzt eine Lichtung im Wald erreichten, fiel leichter Regen auf sie herab. „Lass uns eine kurze Rast einlegen, Iska.“ Sigmar suchte eine trockene Stelle unter einer ausladenden Buche. An den Stamm gelehnt saßen sie auf dem Boden und beide waren dankbar für diese kurze Pause.
„Wie wird es den Leuten aus meinem Dorf wohl ergangen sein?“ Iska sprach leise zu sich selbst, doch Sigmar verstand sie und nahm ihre Hände.
„Nicht anders, als anderen Germanen auch. Die Römer werden diejenigen, die sie am Leben ließen, als Sklaven verschleppt haben. Meistens die jungen Frauen und Männer. Arbeitsfähige, zur Sklavenarbeit taugende Menschen. Sie werden verkauft oder von demjenigen, der sie gefangen nahm, selbst als Sklaven genutzt. Kleine Kinder, die noch zu nichts Nütze sind, werden, genauso wie die Alten, getötet. Oder, wenn sie Glück haben und die Götter ihnen beistehen, ebenfalls als Haussklaven behalten.“
Beide schwiegen eine Weile. Der Regen nahm noch weiter zu und Iska konnte kleine Rinnsale beobachten, die sich ihrem Lagerplatz immer mehr näherten. Auch Sigmar schaute auf das Wasser. „Lange wird es hier nicht mehr trocken bleiben. Es wird Zeit, dass wir unseren Weg fortsetzen. Komm, Iska, bleiben wir in Bewegung, dann macht uns die Nässe nicht so viel aus.“
Das Fortbewegen wurde jetzt schwieriger, da sich der kleine Pfad, dem sie folgten, allmählich in einen Schlammweg verwandelte. Einmal mehr dankte Iska den Göttern, die römischen Schuhe an den Füßen zu tragen. Trotzdem musste sie häufig Sigmars Hilfe in Anspruch nehmen, besonders dort, wo der Weg recht steil anstieg oder abfiel. Beide waren sie jetzt bis auf die Haut durchnässt.
Plötzlich wich der Wald und sie standen vor einem abgeernteten Feld. Sigmar stoppte abrupt und deutete Iska sich neben ihn hinzuknien. Iska sah ihn fragend an. „Reiter.“ Sigmar deutete mit dem Arm in eine Richtung. „Aus dieser Richtung.“ Jetzt vernahm auch Iska leises Pferdegetrappel.
„Sie sind nicht mehr allzu weit fort, bei diesem Regen sind entfernte Geräusche allerdings schlecht auszumachen.“ Er sprach leise und spähte angestrengt in der angegebenen Richtung. Alsbald schälten sich drei Reiter aus dem Regen. Sigmar sprang auf. „Das ist Veikko, wenn ich mich nicht täusche.“ Weitere Erklärungen blieb er Iska schuldig. Stattdessen winkte er heftig mit den Armen und schrie den drei Reitern entgegen: „Uuu Veikko ... Uuu Veikko.“
Die Reiter hielten kurz inne und änderten dann die Richtung. Sigmar wandte sich zu Iska: „Steh auf, Iska. Das sind Leute unseres Dorfes. Meine Gefährten. Der Vordere von ihnen ist Veikko, mein Bruder. Die beiden anderen kann ich noch nicht erkennen. Wie ich Veikko allerdings kenne, sind das Brix und Wibke. Die beiden sind ebenfalls Geschwister.“ Sigmars Wangen glühten vor Freude. Strahlend sah er den Reitern entgegen. Kurz vor Sigmar und Iska zügelten sie ihre Pferde und wie auf ein Kommando sprangen alle drei zu Boden.
Veikko stürzte auf Sigmar zu und schloss ihn in die Arme. „Sigmar, mein Bruder. Schön dich wohlbehalten wiederzusehen!“ Alle vier begrüßten sich jetzt wortreich. Veikko sah auf Iska: „Wen hast du uns da mitgebracht? Einen neuen, jungen Krieger? Wie ich sehe, auch schon mit dem Schwert und Dolch der Römer bewaffnet. Oh, Sigmar, du wirst uns am Ende doch nicht einen Römer mitgebracht haben?“ Veikko wand sich in gespieltem Entsetzen.
Lachend winkte Sigmar ab: „Das ist Iska. Ihr Bruder ist Wiborg, von dem ich euch schon einige Male berichtete. Sie lebte in dem Dorf Voghat, jenseits des Limes. Bis die Römer sie überfielen. Aber später erzähle ich euch die ganze Geschichte. Lasst uns zum Dorf reiten, es wird Zeit auszuruhen, etwas zu essen und an ein wärmendes Feuer zu kommen. Was treibt euch bei dem Wetter überhaupt heraus?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich zu Brix: „Brix, treuer Freund, nimm deine Schwester zu dir aufs Pferd, so kann ich mit Iska Wibkes Gaul nehmen.“
Brix nickte und sie saßen auf. Allein Iska stand ein wenig verlassen vor dem großen Tier. „Komm, Iska. Gib mir deine Hand und schwinge dich hinter mir auf das Pferd. Halte dich einfach an mir fest, dann wird dir nichts geschehen!“
Iska betrachtete den Gaul mit Skepsis. Sicherlich hatte sie schon das ein oder andere Pferd - oder auch einen Ochsen - vor einen Karren gespannt, doch auf so einem Tier zu sitzen, war natürlich etwas anderes. Sigmar bemerkte ihr Zögern. „Keine Angst, Iska, dir wird nichts passieren. Pferde wirst du doch wohl kennen, oder?“ Veikko sprang von seinem Tier und stellte sich neben Iska. „Komm, ich helfe dir.“ Er fasste sie bei den Hüften und setzte sie mit Schwung auf den Pferderücken. Mit geschlossenen Augen hielt Iska sich krampfhaft an Sigmar fest. ‚Erst die Fahrt in einem Boot, dann dies hier‘, dachte sie. ‚Bleibt mir denn nichts erspart? Wo wird das wohl noch enden?‘ Dann, als sich das Tier in Bewegung setzte, fügte sie sich in ihr Schicksal und hielt sich einfach nur fest.
Nachdem sie eine Weile in gemächlichem Tempo daherritten, stellte Iska fest, dass diese Art der Fortbewegung nicht halbwegs so unangenehm war, wie sie zunächst dachte. Der Körper des Pferdes bewegte sich warm und geschmeidig unter ihr und sie spürte an ihren Schenkeln die starken Muskeln des Tieres. Der Regen lies ein wenig nach und war nur noch als leichtes Nieseln wahrzunehmen. Von vorne wärmte sie der Körper Sigmars und Iska bemerkte ein leichtes Kribbeln zwischen ihren Schenkeln. Nur allzu gerne gab sie sich dem Gefühl hin.
„Schau, Iska. Unser Dorf.“ Sigmar riss sie aus ihren Träumen. Auf dem letzten Stück ihres Weges war sie in einen leichten Halbschlaf gefallen, die gleichmäßige Bewegung und die Wärme des Tieres taten ihr Übriges. Iska öffnete vorsichtig die Augen. Vor ihr lag eine Wand aus angespitzten Baumstämmen, die als Schutz des dahinterliegenden Dorfes diente. Unwillkürlich drängte sich ihr der Vergleich mit dem Zaun der Römer auf. Jetzt öffnete sich ein Tor und sie ritten darauf zu. Nachdem die Reiter das Tor passiert hatten, wurde es von zwei Männern wieder geschlossen. Iska sah sich neugierig um. Das Dorf sah fast wie ihres aus, nur war es viel größer und von der Wand umgeben. In regelmäßigen Abständen befanden sich vor der Umzäunung kleine Türme, die die Beobachtung der Umgegend ermöglichten. Iska schätzte die Höhe der Wand auf doppelte Menschenhöhe. Dicht an den Holzpfählen waren Stege angebracht, so dass Posten in einiger Höhe an der Wand entlanglaufen konnten.
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