„Wie kommt er darauf?“, frage ich.
„Weil ich Samstagnacht nicht daheim war.“ Nach kurzem Nachdenken fällt es mir ein. Samstag hat Elin die Nacht in Sagas Box verbracht, damit sie mir Bescheid geben kann, wenn die Geburt beginnt. Ich war so müde vom Freitags-Gig in der Bar, dass ich dankbar Elins Angebot angenommen hatte und früh zu Bett ging. Ich bin davon ausgegangen, dass ihr Vater Bescheid wüsste. Jetzt ärgert mich meine Gedankenlosigkeit.
„Hast du es ihm denn nicht gesagt?“ Elin zuckt mit den Achseln.
„Er bekommt normalerweise sowieso nicht mit, ob ich da bin oder nicht. Seit Mama wegging ... ist er meistens betrunken.“ Ich seufze. Das letzte Mal, als ich Dagur erlebt habe, es muss vor ungefähr zwei Monaten gewesen sein, war er sturzbesoffen und musste aus der Bar entfernt werden, bevor er eine Schlägerei angezettelt hat. Seitdem hat er dort Hausverbot. Seinen Job hatte er bereits kurz nach dem Fortgang von Elins Mutter verloren. Er muss sozial total isoliert leben. Kein Wunder, dass Elin immer mehr Zeit auf unserem Hof verbringt. Jetzt mache ich mir Vorwürfe. Ich hätte früher erkennen müssen, dass Dagur kurz vor dem Ausrasten steht. Aber Elin hat mit keinem Wort erwähnt, wie schlimm es bei ihr Zuhause zugeht.
Zuhause ? Ein Zuhause sollte ein Ort der Geborgenheit sein.
Ich verstärke meine Umarmung.
„Du wohnst ab heute bei uns. Wir haben genug Platz.“ Elin hebt den Kopf und reißt die Augen auf.
„Ehrlich?“ Ich nicke. Ihre Gesichtszüge entgleisen.
„Das wird er niemals dulden. Er braucht mich doch für den Haushalt, die Wäsche und um seinen Dreck wegzumachen.“ Ich schnaube abfällig.
„Pah, dann muss er dich schon holen kommen. Und an mir kommt er nicht vorbei. Und an Jon und Atli.“
Wie erleichtert bin ich, als Elin sich entspannt.
„Und an Christian“, wispert sie und ein Hauch ihres üblichen Lächelns zeigt sich in ihren Augen. Ich seufze und streiche ihr über den Arm.
„Du bist echt verknallt in den Typen, oder?
„Ich weiß nicht. Er ist einfach soo süß.“
„Na ja, süß ist nicht alles.“
„Ja, aber er ist auch so aufmerksam und klug und kann so gut erzählen. Und er ist der netteste Typ, den ich je getroffen habe. Findest du nicht?“ Ich grinse Elin an, froh, sie ablenken zu können.
„Neee, der ist so was von nicht mein Typ.“
„Aha, wie ist denn dein Typ?“ Ich stoße die Luft aus. Worauf habe ich mich da nur eingelassen? Elin schaut mich so erwartungsvoll an, dass mir nichts Anderes als die Wahrheit übrigbleibt. Na sagen wir mal: die halbe Wahrheit.
„Ich steh` eher auf Musikertypen.“
„Ah, Musiker. So wie Jon?“, fragt Elin mit einem interessierten Schniefen nach. Verdammt !
„Nein, wie Andri. Das ist ein Gitarrist, mit dem ich mal zusammen war und der mir gezeigt hat, dass Männer dir viel erzählen, wenn der Tag lang ist.“ Elin kneift nachdenklich die Augen zusammen.
„Was hat er getan?“, fragt sie und ich registriere zufrieden, dass mein Ablenkungsmanöver geholfen hat. Seufzend zucke ich mit den Schultern.
„Fragt sich, wer was getan hat. Ich habe lange gebraucht, mich auf ihn einzulassen, obwohl ich total auf ihn stand. Als ich endlich so weit war, hat er wohl nicht mehr an unsere Liebe geglaubt. Vielleicht war ihm aber auch seine Karriere wichtiger. Er hat um die Zeit einen Plattenvertrag bekommen.“
„Wow. Ist er ein berühmter Musiker? Kenne ich was von ihm?“ Ich wuschle Elins Haar. Sie ist so süß und unschuldig.
„Nein, das ist nicht dein Musikgeschmack. Er macht eher Indie-Zeugs. Nichts aus den Charts.“ Elin legt neugierig den Kopf schief.
„Und dann? Hatte er ein Groupie?“
„Groupie? Kann sein. Auf jeden Fall eine Managerin. Er hat mich von heute auf morgen verlassen. Das Schlimmste war, dass er vorher kein Wort gesagt hat und einfach weg war. Dabei hat er kurz vorher noch gesagt, er liebt mich.“ Nachdenklich schaue ich auf den Kirchturm. „Irgendwie war es okay so. Ich war nicht ganz bei der Sache“, murmele ich vor mich hin.
„Ach, lass mich raten: Du hast für Jon geschwärmt? Warum seid ihr zwei eigentlich kein Paar? Ihr wärt echt süß zusammen.“
Ich verdrehe die Augen. Das wird mir nun zu bunt.
„Jon ist mein bester Freund. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“ Ich erhebe mich, klopfe die Jeans ab und halte Elin die Hand hin.
„Komm, Elin. Lass uns deine Wange kühlen und dann zeige ich dir etwas, was dich ablenken wird.“ Sie ergreift die Finger und lässt sich von mir hochziehen. Als sie steht, lächelt sie mich an.
„Christian würde sicherlich keine Herzen brechen. Dafür ist er einfach zu toll. Mir wird etwas einfallen, dass er auf mich steht.“ Ich zucke mit den Schultern.
„Viel Erfolg, dabei, Elin!“, lasse ich ihr die Illusion.
Als wir an der Pferdekoppel ankommen, schnaubt Saga und schnüffelt auf der Suche nach Leckerbissen an meiner Jackentasche. Elin sinkt auf die Knie und vergräbt einen Moment die Stirn am Hals des jungen Tiers. Ich schmunzele, weiß ich doch, wie gut das tut.
„Hier, du Vielfraß!“ Ich halte Saga eine Karotte hin und kraule ihr über die weiße Blesse.
„Lilia“, sagte Elin plötzlich. Erst begreife ich nicht, bis mir aufgeht, das könnte der Name für das Fohlen sein. Einen Moment lang bin ich sprachlos. In meinem Inneren wütet ein Sturm seit Jahren unterdrückter Gefühle. Ich wende mich ab, um mich zu sammeln.
„Ein schöner Name, Elin“, sage ich mit zittriger Stimme.
„Ja, mir ist aufgefallen, dass die Blesse wie eine Lilie ausschaut, findest du nicht auch, Fanney?“ Sie erhebt sich.
„Ja, das stimmt. Der Name ist perfekt. Du kannst es nicht wissen, aber damit machst du mir eine große Freude, Elin. Lilien waren die Lieblingsblumen meiner Mutter. Die Geburt von Saga haben meine Mutter und ich zusammen erlebt. Kurz darauf ist sie gestorben. Du hättest keinen besseren Namen wählen können.“
„Oh Fanney, das wusste ich ja nicht. Es tut mir leid, wenn ich dich traurig gemacht habe. Das wollte ich nicht!“ Elin fällt mir um den Hals und drückt mich fest. Einen Moment lang genieße ich ihre Zuwendung. Elin ist einfach toll und ich wünsche mir so sehr, dass sie ihr Glück findet.
„Ist schon okay, Elin. Das Leben geht weiter, wie du siehst.“ Mit einem Kopfnicken deute ich auf das Fohlen, das, den Kopf gegen Sagas Flanke gepresst, gierig Milch saugt.
Jetzt hat das Fohlen also einen Namen. Lilia .
Ein sehr schöner Name.
„Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Es tut gut, den Frust ungefiltert gegen das raue Meer zu brüllen. Weit und breit ist keine Menschenseele zu sehen und so lasse ich mich gehen. Ich nehme eine Handvoll schwarzen Lavasands und werfe ihn meiner Tirade hinterher. Leider mit dem Effekt, dass mir der Wind die Hälfte davon in die Augen bläst. Heute Morgen war ich drauf und dran, alles zusammenzupacken. Auf den Laptop starren kann ich schließlich auch in Frankfurt. Ich hatte mir erhofft, dass mich Island, das Land, in dem es sogar eine Elfenbeauftragte gab, zu Geschichten inspiriert. Aber ich werde schier wahnsinnig. Mein Hirn ist blank. Nein, das stimmt nicht, es summt. Leider nicht vor Geschichten, sondern vor Panik und Verzweiflung. Diese schrecklichen Nächte, die keine richtigen Nächte sind. Immerzu ist es hell und ich komme nicht zur Ruhe. Der Schlafmangel ist eine zusätzliche Herausforderung zu der nervigen Trägheit meiner Fantasie.
Als ich den Hof erreiche, habe ich mich ein wenig beruhigt. Seufzend werfe ich die Steppjacke, die ich heute erstmals offen über dem Laufshirt getragen habe, weil es an die fünfzehn Grad war, auf das Bett. Der Himmel zieht sich gerade zu, obwohl vorhin alles nach einem makellosen Tag aussah. Das Wetter hier wechselt innerhalb von Minuten. Nach einer kurzen Dusche schalte ich die kleine Leselampe an.
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