„Okay. Elin, richtig?“, er wendet sich Elin zu und er tut dies auf eine Weise, die dem Gegenüber das Gefühl ungeteilter Aufmerksamkeit gibt. Elin nickt, sichtlich entzückt, dass er sich ihren Namen gemerkt hat.
„Ich werde einen Weg finden, den Atlishof in mein Buch einzubauen. Das zumindest kann ich dir versprechen.“ Ich runzle die Stirn. Wie soll ich das denn verstehen? Einen Weg finden? Was ist kompliziert daran, unser Bed & Breakfast in einem Reiseführer zu erwähnen? Ich seufze. Der Kaffeemangel trübt offensichtlich meinen Verstand. Je eher ich die Anmeldung über die Bühne habe, desto schneller kann ich in die Küche und meinen Entzug stillen. Eine heiße Dusche und frische Klamotten wären auch nicht schlecht.
„Gut, Christian, ich nehme an, du möchtest erst einmal ankommen und dich einrichten.“ Ich klimpere mit dem Schlüssel für Zimmer vier. „Komm, wir gehen nach oben. Jon hat dein Gepäck schon ins Zimmer gebracht.“
Als ich an Christian vorbeigehe, nehme ich seinen Duft wahr. Sofort denke ich an die moosbewachsenen Steine, über die ich im Sommer als Kind balanciert bin, wenn unsere Familie am Ufer des Skóga gepicknickt hat. Ich sehe die gelben Flechten auf den Felsen vor Augen und meine, die Wärme des Steins unter meinen nackten Füßen zu spüren, während das perlende Lachen meiner Mutter zu mir herüberweht. Alles ist warm und hell.
Merkwürdig, diese Sommerpicknicks hatte ich vergessen. Warum lässt ausgerechnet der Duft dieses fremden Mannes die Erinnerung wieder aufleben?
Ich folge Fanney die hölzerne Treppe hinauf, die in den zweiten Stock führt. Ihr glattes, hellblondes Haar, das sich unter dem Kopftuch den Rücken hinunter ergießt, wippt bei jedem Schritt. Mein Blick wird unweigerlich auf ihr recht üppiges Hinterteil gelenkt. Nicht schlecht!
Oh Mann. Was denke ich denn hier? Das muss die Luftveränderung sein. Ich senke den Blick.
Die ansonsten zierliche Frau riecht nach Pferdestall. Innerlich seufze ich. Vielleicht hätte ich mich besser in das Hotel in Vík einquartieren sollen. Ein hässlicher beigefarbener Klotz, der mir sicherlich Anonymität gewährt hätte. Aber die Fotos im Internet von diesem Bed & Breakfast, dem Atlishof , hatten mir den Eindruck von echtem Islandflair vermittelt: ein rotes Haupthaus mit mehreren spitzgiebeligen Nebengebäuden, auf deren Dächern das Gras wächst. Auf den Fotos weidete eine Herde Islandponys auf den Hängen rund um das Haus. Es sollte mich also nicht wundern, dass sie nach Stall riecht. Ich räuspere mich. Gott, was gäbe ich für einen Kaffee. Oder Schlaf.
Auf der Fahrt hierher habe ich Melanie am Handy schon genug vorgejammert, wie grässlich ihre Idee mit dem Nachtflug gewesen ist. Dieser Jon hätte mich nach einer halben Stunde wahrscheinlich am liebsten aus dem Jeep geworfen. Wie ein Kleinkind habe ich gebockt. Bereits als ich das Gate verließ, hatte mich der Mann von oben bis unten gescannt. Ich konnte ihm ansehen, wie er sein Misstrauen hinter Höflichkeit verbarg. Zugegeben, er könnte sich nicht deutlicher von mir unterscheiden. Sieht er doch aus wie ein isländischer Cowboy. Er wirkt wie ein Model aus einem Outdoor-Katalog. Kerniger Blick, pragmatische Kleidung. Und hat ein faszinierendes Gesicht. Eine große Narbe zieht sich über seine rechte Wange und die Gesichtszüge sind fast nicht greifbar. Hochinteressant. Ich speichere alles ab. Vielleicht kann ich dieses Gesicht irgendwann für eine Buchfigur verwenden.
Als ich das Handy endlich weggesteckt habe, darf ich einen phänomenalen Sonnenaufgang erleben, der die schroffe Graslandschaft in ein zauberhaftes Morgenlicht taucht. Einzig die Masten von Hochspannungsleitungen, die sich über die Landschaft ziehen, zeugen von Zivilisation. Ab und an zeigt mir Jon eine auffällige Felsformation oder weist mit der Hand auf das Meer. Und einmal auf einen Vulkan. Das also ist der berühmte Vulkan, der 2010 den europäischen Flugverkehr lahmgelegt hat. Eyjafjall ... Okay. Das werde ich wohl nie aussprechen können. Nicht einmal, wenn ich es geschrieben vor mir sähe. Von dieser Sprache kann ich mir gerade mal ‚ Takk’ , ‚ Nei’ , ‚ Bless’ und ‚ Skál’ merken, also Danke , Nein , Tschüss und Prost .
Je mehr Zeit auf der Fahrt verstreicht, desto mehr hebt sich meine Stimmung. Die Landschaft ist atemberaubend und sehr inspirierend. Vielleicht ist die Idee mit Island gar nicht so schlecht gewesen.
Auch Jon taut langsam auf. Ich gebe meiner schriftstellerischen Neugier nach und spreche ihn auf die Narbe an. Viel erfahre ich nicht, nur, dass er bei einem Trip durch Südamerika ausgeraubt wurde und dabei Bekanntschaft mit einem Butterflymesser gemacht hat. Jon scheint mir die Neugier nicht übelzunehmen und gibt bald Geschichten von Trollen und Vulkanen zum Besten.
Da habe ich es gefühlt. Es könnte sein, dass ich hier endlich wieder die Inspiration zum Schreiben finde, die mir seit einiger Zeit abhandengekommen ist.
Fanney öffnet die Zimmertür und ich folge ihr in einen hellen Raum. Sie dreht sich zu mir um und ich kann den Stolz in ihren Augen sehen, als sie meine positive Reaktion auf das Zimmer sieht. Alles ist in einem modernen Landhausstil gehalten. Die Wände sind weiß getüncht, der hölzerne Fußboden hell lasiert. Im Kopfende des Betts prangt eine herzförmige Aussparung, soweit ich das durch den lichten Vorhang, der das Bett aus Kiefernholz einfasst, ausmachen kann. Karierte Zierkissen laden dazu ein, sich sofort auf die Matratze zu werfen und zu entspannen. Ein kleiner Sekretär, versehen mit einem modernen Designstuhl, steht an einer Wand. In der Ecke gegenüber unterstreicht ein Ohrensessel neben einem Kaffeetischchen vor einem Einbauschrank die behagliche Gemütlichkeit. Ich bin erstaunt, wie professionell alles wirkt. Fast wie in einem Fünf-Sterne-Hotel in den Schweizer Alpen. Sicherlich nicht das, was ich auf einem Pferdehof in Island, der Zimmer vermietet, erwartet habe. Ich nicke anerkennend und echte Freude huscht über Fanneys Gesicht. Wirkte sie soeben noch erschöpft und routiniert, fällt mir jetzt umso mehr auf, wie ihre hellblauen Augen aufleuchten. Ihr Gesicht ist großflächig, was durch die hohen Wangenknochen unterstrichen wird. Der Mund ist voll, die Lippen von einem natürlichen Roséton. Sie ist nicht geschminkt. Und dieses helle Haar... Ob ihr bewusst ist, wie natürlich schön sie ist? Sie ist jung. Diese Elin schätze ich auf etwa siebzehn. Fanney wirkt reifer. Sie wird Mitte zwanzig sein. Ob dieser Jon ihr Freund ist? So wie ihr Gesicht aufgeleuchtet hat, als er mit ihr gesprochen hat, nehme ich das an.
Mit raschen Schritten durchmisst Fanney den Raum und öffnet eine schmale Tür.
„Hier ist das Badezimmer. Wir haben erst kürzlich renoviert.“ Ich blicke kurz durch den kleinen Raum, der konsequent den Stil des Hauptraums fortführt. Helle Materialien und schlichte Formen ergeben die perfekte Mixtur aus rustikal und modern. Hier lässt es sich aushalten.
„Danke, Fanney. Ein wunderschönes Zimmer. Wenn ich jetzt einen Kaffee bekommen könnte, wäre ich restlos glücklich.“ Sie strahlt und wirkt erleichtert.
„Ich setzte in der Küche einen auf. Das ist die Tür neben der Islandflagge beim Eingang. Komm einfach runter, wenn du so weit bist. Ich brauche auch dringend einen.“ Damit wendet sie sich ab und lässt mich allein.
Ich lege die Steppjacke über den Schreibtischstuhl, benutze kurz das Bad und schöpfe mir herrlich eiskaltes Wasser ins Gesicht. Während ich mich abtrockne, entdecke ich einen kleinen Austritt vor dem Badezimmerfenster. Ich öffne die Tür. Würzige, kühle Luft schlägt mir entgegen, als sich mir der eindrucksvolle Blick über das Meer offenbart. Einen Moment starre ich sprachlos auf die endlose Weite. Der Hof liegt oberhalb des Ortes Vík, dessen bunte Häuserreihen sich in die Bucht schmiegen. Rechterhand thront auf einem Hügel eine hölzerne Kirche. Sie passt in ihrer skandinavischen Schlichtheit perfekt hierhin. Bei der kargen Szenerie kann ich mir lebhaft vorstellen, wie damals die Wikinger hier gelebt haben.
Читать дальше