Ich rechne Jon hoch an, dass er sich mir zuliebe zusammengerissen und ein Pokerface aufgesetzt hat, nehme mir aber vor, mein eigenes Urteil über den Gast zu bilden.
Elin stupst mich an, als auf der anderen Seite des Jeeps der hochgewachsene blonde Mann aus dem Wagen steigt.
„Weißt du, was der hier will, Fanney? Er hat ziemlich viel Gepäck dabei. Bleibt der länger?“ Elin hat recht. Jon ist mittlerweile damit beschäftigt, mehrere Koffer auf dem Hof abzustellen. Ich beobachte den Mann, der Jon bei jedem Handgriff im Blick hält. Er ist genauso groß wie Jon, was nicht klein ist. Im Gegensatz zu meinem besten Freund, der ausgewaschene Jeans und einen der typischen Strickpullis anhat, steckt der Gast in einer anthrazitfarbenen Flanellhose und einem Hemd. Darüber hat er eine dicke Steppjacke geworfen und trägt sogar einen Schal. Ich schmunzle. Fast alle Ausländer laufen im isländischen Sommer herum, als wäre es eine Eiszeit. Dieser scheint keine Ausnahme zu sein. Hey, es ist Juni! Dann besinne ich mich auf Elins Frage.
„Ja, soweit ich das verstanden habe, will er ein Buch schreiben und hat für vier Wochen gebucht, mit einer Option auf Verlängerung.“
„Wow, ein Schriftsteller. Ist er berühmt?“ Ich zucke mit den Schultern.
„Keine Ahnung. Ich habe seinen Namen gegoogelt, aber keine Veröffentlichung von ihm gefunden. Allzu berühmt kann er nicht sein. Ich nehme an, er schreibt einen Reiseführer über Island. Den gefühlt Tausendsten. Aber wenn er unser Bed & Breakfast empfiehlt, kann das ja nicht schaden.“ Elin nickt automatisch.
„Er sieht gut aus. Wie Chris Hemsworth. Aber der ist ein berühmter amerikanischer Schauspieler. Kein Schriftsteller“, murmelt sie.
Ich hebe verwundert den Kopf und folge Elins Blick. Der Mann steht im Profil zu uns. Hm, zugegeben, er hat ein klassisches Profil mit einer hohen Stirn, geraden Nase und einem eckigen Kiefer. Er kämpft mit dem stetigen isländischen Wind, denn seine Hand streicht mehr als einmal durch das mittellange Haar, als er mit Jon spricht. Jon antwortet ihm und deutet auf die Wasserfälle, die sich weiter im Inland eindrucksvoll über die Klippen ergießen. Jon wedelt mit der Hand und erzählt wohl von dem Vulkan, an dessen Hängen unser Dorf liegt. Dann folgt der Blick des Gastes Jons Finger, der auf die steinernen Zinnen von Reynisdrangur vor der Küste zeigt. Eine Felsformation, die sich in der Morgensonne majestätisch aus der Gischt erhebt. Sein Gesicht erhellt sich und er streicht sich gedankenversunken über das Kinn, während er Jons Worten lauscht. Ohne Lippenlesen zu können, weiß ich, was Jon ihm erzählt. Die Legende der Trolle, die vor der Küste versteinert wurden, als sie einen Dreimaster an Land ziehen wollten und vom Sonnenaufgang überrascht wurden, kennt in Island jedes Kind.
„Vielleicht ist er doch Chris Hemsworth?“ Elin verrenkt sich fast den Hals, damit sie den Fremden besser sieht. Ich schmunzle, öffne das Computerprogramm für den Check-in und gebe mein Passwort ein. Rasch überfliege ich die Daten, die ich bereits aus seiner Email entnommen habe.
„Nun ja, zumindest heißt er so ähnlich. In der Anmeldung steht Christian Helm, 35 Jahre, aus Frankfurt am Main.“
„Ehrlich? Vielleicht ist das sein Deckname, damit er den Paparazzi entkommt. Das kann kein Zufall sein, Fanney. Chris und Helm-sworth. Das klingt superähnlich.“ Ich lache auf.
„Elin, wenn Chris Hemsworth sich nicht gerade als Deutscher verkleidet, um inkognito zu bleiben, glaub ich eher nicht, dass das dein amerikanischer Superstar ist.“ Elin schiebt trotzig die Lippe vor.
„Ist auch egal, der Typ ist heiß.“
Ich mustere den Fremden. Sieht er gut aus? Nur eine naive Siebzehnjährige kann sich durch die schicken Klamotten blenden lassen. Er ist definitiv nicht mein Typ. Zu glatt, zu schön. Zu sehr europäischer Städter. Allein die Wildlederschuhe! Ich weiß nicht, was er von unserer Unterkunft erwartet hat, aber es war klar, dass hier nicht unbedingt mit asphaltierten Wegen zu rechnen ist. Da sind mir die bodenständigen Rucksacktouristen, die sich zuweilen in unsere Unterkunft verirren, lieber. Oder Typen wie Jon, die lässig sind und in deren Gesicht nichts zueinander passen zu scheint, sodass man immerzu hinschauen möchte.
Ungeachtet meiner Gedanken, setze ich ein freundliches Lächeln auf, als Jon die Haustür aufreißt, den Gast auf den Fersen. Wie immer schlägt mein Herz schneller, wenn ich mit Jon in einem Raum bin. Ich schwärme für ihn, seit ich denken kann. Doch er gibt mir mit keiner Geste zu verstehen, dass er jemals mehr in mir sehen wird als eine gute Freundin oder schlimmer: kleine Schwester. Sein Beschützerinstinkt, was mich angeht, ist wirklich nervtötend.
Jon stellt das erste Gepäckstück ab. Bevor er wieder nach draußen verschwindet, stoppt er und blickt mich über seine Schulter an:
„Alles gut gelaufen?“ Ich nicke und strahle über das ganze Gesicht.
„Eine kleine Stute. Elin darf den Namen aussuchen.“ Der Gedanke ist mir soeben spontan gekommen und ich höre erfreut Elins Luftholen. Vor Freude hebt sie die Hand an den Mund. Ich sehe an ihren Augen, dass sie bereits nach passenden Namen für das Pferd, ihr Pferd, sucht. Der Gast hat sich interessiert im Raum umgeschaut und aufmerksam die große Islandkarte studiert, die fast eine Wand einnimmt. Jetzt wendet er sich mir zu.
„Willkommen auf dem Atlishof , Herr Helm. Ich bin Fanney Atlisdottir. Ich hoffe, ich darf Christian sagen. In Island duzt man sich. Hattest du eine gute Reise?“, sage ich den Begrüßungsspruch auf Englisch. Ich spreche zwar noch andere Sprachen, aber das hat sich in Island eingebürgert. Wenn mehrere Leute in einem Raum sind, darunter Nicht-Isländer, sprechen alle Englisch miteinander.
Vor unterdrücktem Grinsen beiße ich mir auf die Lippen, als sein Blick irritiert an meiner fleckigen Jeans klebenbleibt. Er runzelt nachdenklich die Stirn, während er gedankenverloren nickt. Mir fallen seine ungewöhnlichen Augen auf. Hellgrün, mit langen Wimpern. Die dunkelblonden, längeren Haare kontrastieren mit seinem gebräunten Teint und diese Kombination verleiht ihm einen kosmopolitischen Touch.
„Warst du schon einmal in Vík í Mýrdal?“ Er räuspert sich.
„Nein, das ist mein erster Aufenthalt in Island.“
Ich habe nichts Anderes erwartet. Während er den Anmeldebogen ausfüllt, habe ich Gelegenheit, ihn weiter zu betrachten. Er hat schöne Hände und mir gefällt seine Schrift, die einen selbstbewussten Schwung aufweist. Ganz der Schriftsteller! Zum Lesen hat er eine anthrazitfarbene Nerdbrille aufgesetzt, die zu ihm passt. Seine gesamte Erscheinung atmet urbanen Wohlstand. Vielleicht ist er doch nicht so erfolglos als Schreiberling. Oder, er schreibt nur als Hobby? So wie er Jons Erläuterungen gelauscht hat, war die Vermutung mit dem Reiseführer wahrscheinlich gar nicht so abwegig. Nennt man Verfasser von Reiseführern eigentlich Schriftsteller?
„Kommst du wirklich aus Deutschland? Du bist kein Amerikaner?“, fragt Elin.
Christian hebt leicht irritiert den Blick: „Ja, ich lebe in Frankfurt am Main. Und nein, ich bin kein Amerikaner.“
„Oh“, haucht Elin „dann musst du den Atlishof unbedingt in deinem Buch erwähnen!“ Überrascht schaue ich zu Elin. Nicht nur, dass sie meine Gedanken zu lesen scheint, sie bekommt Fremden gegenüber sonst nie den Mund auf. Dieser Deutsche gefällt ihr offensichtlich sehr. Sie hat ein Leuchten in den Augen, das ich so noch nie bei ihr gesehen habe. Ich verdrehe innerlich die Augen. Das kann ja heiter werden. Mahnend schaue ich sie an.
„Lass unseren Gast doch erst einmal ankommen, Elin.“ Christian legt den Kopf schief und lacht. Ein sattes, dunkles Lachen, das ansteckt und das ich ihm nicht zugetraut hätte. Automatisch entfährt mir ebenfalls ein Glucksen.
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