So vergeht eine Stunde. Die Musikerinnen verbeugen sich und verlassen unter kurzem Klatschen der Anwesenden die Bühne. Ich reiße mich zusammen, nicht aufzuspringen und in Standing Ovations zu verfallen. Die Einheimischen sind wahrscheinlich zu verwöhnt, um die Qualität des Gehörten beurteilen zu können. Etwa eine Viertelstunde nach dem Auftritt, schnalzt Atli mit der Zunge, blickt auf die Uhr und erhebt sich. Seine Freunde tun es ihm gleich. Atli legt die Hand auf meine Schulter.
„Zeit für uns Ältere, sich zurückzuziehen. Ich wünsche dir noch einen schönen Abend, Christian.“ Ich stürze den Rest des Biers hinunter und erhebe mich ebenfalls.
„Nein, für mich reicht es. Ich muss morgen früh raus.“ Atli mustert mich stirnrunzelnd, dann zuckt er mit den Schultern und strebt dem Ausgang zu. Sämtliche Einheimische über Fünfzig scheinen aufzubrechen. Als Elin mich im Tross von Atli entdeckt, springt sie auf. Sie holt mich ein, legt die Hand auf meinen Unterarm und schaut mich mit großen Augen an.
„Du gehst doch nicht etwa schon, Christian?“
Irritiert bleibe ich stehen.
„Doch, ich wollte mir nur die Musik anhören und ein Bier trinken.“ Sie schüttelt ungläubig den Kopf.
„Aber jetzt geht es doch erst richtig los!“ Elin deutet in Richtung Podest, auf dem gerade ein Schlagzeug installiert wird. Vielleicht hat sie recht, und es tritt noch eine lokale Band auf. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass irgendjemand Fanneys Auftritt heute noch toppen kann.
„Lass mal, Elin. Mein Pensum an isländischer Folkmusik ist für heute voll. Ich bin nicht so der Fan.“
„Aber jetzt kommt doch gar kein Folk mehr. Fanney wird enttäuscht sein.“ Fragend hebe ich meine Brauen.
„Fanney? Tritt sie noch einmal auf?“ Elin kichert.
„Ja, wusstest du das nicht? Sie singt in der Band, die jetzt kommt. Das solltest du dir nicht entgehen lassen.“ Elin hat ein leichtes Spiel, mich zu ihrer Gruppe Mädchen zu ziehen, die unweit der Bühne ungeduldig auf uns wartet. Jemand hat die Tische an die Seite geschoben und eine Fläche vor der Bühne freigeschaufelt. Das Licht ist heruntergedimmt und ich bin verblüfft, wie dieser Schankraum plötzlich einem meiner liebsten Musikclubs in Frankfurt ähnelt.
„Hier!“ Der Wirt drückt mir ein weiteres Bier in die Hand. Vor der Bühne herrscht Gedränge und aus dem Augenwinkel sehe ich, wie immer mehr junge Gäste in die Bar strömen. Fanneys Band scheint beliebt zu sein.
„Wie heißt die Band?“, rufe ich Elin gegen den steigenden Lärmpegel ins Ohr.
‚ Stripped ’, sagt das schüchterne Mädchen neben Elin, das noch roter wird, als ich ihr die Hand hinhalte und mich vorstelle. Elin räuspert sich so lautstark, dass die zusammenzuckende Frau kaum ihr ‚Solveig’ herausbringen kann.
„Sie tritt aber nicht nackt auf, oder?“, sage ich lachend in die Runde, um die plötzlich angespannte Stimmung aufzulockern.
Die Mädchen giggeln, als hätte ich den Witz meines Lebens gerissen.
„Nein, das ist eher im übertragenen Sinn gemeint. Gelöste Fesseln, ungeschminkt und so“, antwortet Elin.
Der Aufbau scheint beendet zu sein, ganz professionell richten sich Spots auf die Bühne und der Saal brodelt. Jubel und Pfiffe zerschneiden die Luft. Ich kann nicht leugnen, dass sich die Aufregung auf mich überträgt. Nervös trinke ich einen Schluck Bier. Zum ersten Mal seit ich in Island bin, ist mir warm. Wer hat schon jemals eine Elfenprinzessin in einer Rockband gesehen? Ich drücke Elin das Bier in die Hand.
„Halt bitte mal.“ Mit einem Griff in den Nacken ziehe ich den Fleecepulli über den Kopf. Das graue T-Shirt rutscht dabei hoch. Elin starrt auf das nackte Stück Haut an meinen Bauch, als hätte sie eine Erscheinung. Ihre Freundinnen wirken ähnlich paralysiert. Meine Güte. Ich bin einiges von Frauen, insbesondere weiblichen Fans, gewöhnt, aber selten habe ich mich wie ein Rockstar gefühlt, dem gleich Höschen an den Kopf fliegen werden. Ich werfe den Pulli auf einen der Tische am Rand und nehme Elin, deren Zunge über ihre Unterlippe schnellt, kopfschüttelnd das Bier aus der Hand. Okay, ich sollte mich künftig von ihr fernhalten. Demonstrativ gehe ich zwei Schritte weiter Richtung Bühne.
Das Licht geht aus und wie bei einer großen Bühnenshow nehmen die Musiker, von denen wir nur die Silhouetten sehen, ihre Plätze ein. Ein leises Anzählen, begleitet von Drumsticks, dann flammen Spots auf und die Band legt los.
Das Glas, das ich gerade zum Mund führen will, stoppt auf halbem Weg und so ungefähr muss es sich anfühlen, wenn die Lichter eines Schnellzuges mit rasender Geschwindigkeit auf einen zurasen. Es gibt kein Entkommen!
Ab diesem Moment ist nichts in meinem Leben mehr so, wie es war.
Mit geschlossenen Augen warte ich auf den Akkord des Pianos, der meinen Einsatz vorgibt. Jede Zelle meines Körpers nimmt die gespannte Erwartung des Publikums auf. Das kräftige Schlagen meines Herzens peitscht Adrenalin durch die Venen. Ich liebe diese Sekunden auf der Bühne, bevor die Hölle losbricht und die Band eine verlässliche Einheit bildet.
Der Akkord kommt und meine eigene Stimme schallt mir aus dem Monitor am Bühnenrand verstärkt entgegen. Wir starten mit einer Coverversion von Kaleos ‚ Way down we go ’. Der Song einer isländischen Band, die in den letzten Jahren Furore gemacht haben. Kein einfaches Stück und eine Herausforderung für mich, diese satten Töne mit meinem zierlichen Körper zu erzeugen. Jon und ich haben diesen Song als Einstieg gewählt, weil die Einheimischen diese Art von isländischem Lokalpatriotismus lieben. Außerdem ist dieses soulige Stück der beste Kontrast zur Folkmusik von zuvor. Die Rechnung ist aufgegangen. Begeistertes Kreischen braust auf, als ich voller Inbrunst den Refrain singe. Elins Rufen ist so deutlich rauszuhören, dass ich schmunzle und jetzt doch die Augen öffne und Elin im Publikum suche.
Durch das blendende Licht des Spots schaue ich direkt in Christians Gesicht. Er mustert mich intensiv. Noch eindringlicher, als beim letzten Mal. Während ich mich auf den Text konzentriere, sehe ich seinen Blick über mein Dekolleté fahren, hinab zum auffälligen Gürtel. Er verweilt auf dem winzigen Stück Stoff, das mir die Verkäuferin in der Boutique in Reykjavik als Minirock verkauft hat. Ich sehe, wie sich seine Augen weiten, als er meine nackten Beine scannt, bis er die Chucks erreicht und sich ein überraschtes Grinsen in seine Züge legt. Ich habe dieses Outfit eigentlich wegen Jon gekauft. Ich kann es nicht lassen, eine Reaktion von ihm herauszufordern. Er soll mich einmal als Frau wahrnehmen. Das nennt man dann wohl Querschläger, so wie Christian mich mit Blicken verschlingt. Eindeutig der falsche Mann.
Warum also bringt dieser Blick mich so aus dem Konzept?
Normalerweise bin ich die Ruhe selbst, sobald ich singe. Doch heute ist es anders. Durch meinen Tunnelblick kann ich deutlich sehen, wie sich Christians ausgeprägter Adamsapfel durch die Schluckbewegung einmal seinen Hals hinauf und hinabbewegt. Dieses Detail fasziniert mich. Ich kann nicht aufhören, ihn anzustarren. Dieser Auszieh-Blick verursacht mir eine Gänsehaut am ganzen Körper. Mein Herz rast und aus unerfindlichen Gründen sammelt sich eine pochende Hitze in meinem Bauch. Fast verpatze ich den Einsatz des zweiten Refrains.
Christian hebt unvermittelt den Kopf. Mit so unverhohlenem Verlangen versenkt er seine Augen in meine, dass mein Herzschlag einen Moment aussetzt. Nun komme ich doch aus dem Takt. Ich reiße mich zusammen und improvisiere. Endlich bin ich aus Christians Bann befreit. Entschuldigend blicke ich zu Jon, der fragend die Brauen hebt.
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