»Geht mir genauso.« Er legte einen Arm um ihre Schulter. »Kannst du noch? Oder sollen wir eine längere Rast einlegen?«
»Um nichts auf der Welt möchte ich jetzt rasten. Lass uns weitergehen. Ich will keine Minute länger unter der Erde bleiben, als notwendig.« Außerhalb des Strahls der Taschenlampe schien es, als wolle die Dunkelheit sie verschlucken. Sie musste raus.
»Mir geht es ähnlich. Ich fuhr mal in eine Schachtanlage ein. Du weißt schon eine Zeche oder Grube. Neunhundert Meter tief im Erdboden. Das muss ich nicht noch einmal haben. Vor allem, wenn ich daran denke, was über uns ist.«
»Du munterst mich wirklich auf. Ich will nichts davon hören«, sagte sie missmutig.
Am Ende der Höhle bogen sie in den zweiten Gang von links. Vier Möglichkeiten boten sich hier. Aber nur aus einem blies Luft. Es ging immer weiter herunter. Der Stollen nahm kein Ende. Nach einer, von vielen Biegungen stolperten sie fast in ein Wasserloch, das die gesamte Breite des Ganges einnahm. Sie mussten zehn Meter überwinden, um das andere Ufer zu erreichen. Mutlos sank Griet zu Boden.
»Was machen wir jetzt?«
»Auf die andere Seite.« Er zog die Schuhe aus und machte den ersten Schritt in das Wasser. »Ich gehe erst mal rüber. Warte ab.« Vorsichtig setzte er Fuß vor Fuß. Das Wasser ging ihm bis zu den Schenkeln. Es brachte ihm also nichts, dass er die Hose bis zu den Knien hochgekrempelt hatte. Er hätte sie besser ausgezogen. Kurz darauf gelangte er an den anderen Rand des Beckens.
»Warte«, rief er Griet zu. »Ich komme rüber und helfe dir. Zieh dich aus, sonst werden deine Klamotten auch noch nass.« Er hängte seine Hose an einen Felsvorsprung. Er bibberte im kühlen Luftzug.
»Komm«, sagte er sanft, als er die andere Seite wieder erreichte.
Griet tauchte den Fuß ins Wasser, zog ihn jedoch sofort wieder zurück. »Das ist ja pures Eis.«
»Da musst du durch«, er fasste sie am Arm. Gerade mal zwei Meter vor dem anderen Ufer rutschte Paul weg. Er klatschte mit dem Oberkörper nach vorne in das Sinterbecken. In einer instinktiven Bewegung warf er den Kleiderpacken, den er trug, aufs Trockene. Frierend erreichten sie festen Boden und stiegen in ihre Klamotten.
»Wir müssen weiter, sonst frieren wir hier fest«, forderte er sie auf.
Das Fortkommen wurde schwierig und brachte sie bis an die Grenzen ihres körperlichen Leistungsvermögens. Sie zwängten ihre Körper durch schmale Spalten hindurch, robbten auf dem Bauch oder überwanden haushohe Verwürfe.
Bei der nächsten Rast sanken sie kraftlos zu Boden und klammerten aneinander fest, bevor sie einschliefen.
Nach, sie wusste nicht wie langer Zeit erwachte Griet und drückte den schweren Paul ein wenig zur Seite. Er lag halb auf ihr und drückte ihren Rücken gegen einen spitzen Zacken, im Felsen. Verzweiflung drang in ihre Gedanken, aus denen sie sich befreite. Sie erzählte Kendrics Geschichte weiter. Sie wusste, Paul dämmerte zwar, lauschte jedoch ihren Worten.
*
elf
Griet erzählt:
Ein halbes Jahr lebten sie nun schon an dem Fluss mit dem Felsenbogen. Bevor der Winter mit der Kälte kam, wollten sie in einer der Höhlen, die es hier reichlich gab, ein Lager aufschlagen.
Knut versuchte Kendric, die Geschichte Nerviers zu erzählen. Er verstand immer noch nicht, wie er vor seinen Augen verging. Mittlerweile wusste er, dass Nervier ursprünglich Andy hieß. Nach dessen Verschwinden fiel Knut in ein tiefes Loch, aus dem ihn auch seine Brüder nicht herausholen konnten. Wie verschwand ein Mensch von einem auf den anderen Augenblick? Sich einfach auflösen? Der Schock saß noch immer tief. Kendric brachte zwar Verständnis auf, konnte ihm jedoch aufgrund seiner Lebensphilosophie nicht helfen. Mutter Erde hatte so viele Geheimnisse. Warum nicht auch dieses. Trotz allem, die Begegnung mit Kendric tat ihm gut.
Auch Kendric empfand die neue Freundschaft, als etwas Besonderes. Sie wurde ihm bewusst, als sie durch den Wald schlenderten und ein riesiger Wolf auf sie zustürmte. Er warf Knut zu Boden. Der Druide zückte das Schwert und war im Begriff einzugreifen, um verblüfft innezuhalten. Das Tier griff nicht an. Die beiden rollten über den Boden. Knut lachte zum ersten Mal, seit er ihn kannte. Er tobte ausgelassen, wie ein Kind und die blauen Augen blitzten vor Freude.
»Das ist Wolf«, stellte er das riesige Tier vor. »Er lässt sich Wochen nicht sehen, aber er kommt immer wieder.«
»Mutter Erde segnet dich. Welch ein Geschenk macht sie dir.«, entgegnete Kendric.
»Wenn du es so sagst, dann hast du recht«, stimmte Knut zu. »Für mich ist Wolf so selbstverständlich wie Essen oder Trinken.« Wolf streckte die kräftigen Glieder und der mächtige Körper erschauerte vor Wohlbehagen, als er ihm den Nacken kraulte. Dann trottete das Tier zu Kendric und versenkte die gelben Augen in die des Druiden. Er spürte Kribbeln im Körper und ein Gefühl des Willkommens wurde übermächtig. Er neigte den Kopf wie zum Gruß, und das Tier erwiderte die Bewegung. Der Wolf erstarrte kurz, bevor das Zittern, wie eine Wellenbewegung, über sein Fell lief und sprang aus dem Nichts ins Gebüsch.
Von diesem Zeitpunkt an wusste Knut, dass er nicht nur einen Ersatz für Andy, sondern vielmehr einen neuen Freund gefunden hatte. Wie selbstverständlich erklärte er sich sofort bereit, mit dem Druiden, nach Süden zu ziehen. Seine Brüder waren Feuer und Flamme.
Jetzt wohnten sie hier in dieser wunderschönen, jedoch fremden Landschaft. Sie roch anders als die Heimat. Aromatische Düfte von Kräutern und Blumen zogen durch die Luft und ließen die Nasenflügel beben.
Kendric vollzog während der Wanderung nach Südwesten eine Verwandlung. Mit jedem Tag wurde er freier und empfing Schwingungen, die ihn in Euphorie versetzten. Die er jedoch als Druide selbstverständlich hinnahm. Die Luft vibrierte voller Signale. Die Natur sprach zu ihm. Er bekam nicht genug davon.
Den ursprünglichen Anlass, den Römer Lucius zu stellen, vergaß er scheinbar.
»Was weißt du über deine Vorfahren, über die Entstehung der Welt?«, fragte Kendric Knut, der ihm in der Höhle gegenübersaß, die sie, seit ihrer Ankunft bewohnten. Von der Größe nicht mehr eine Grotte und sie lag ungefähr drei Meter über der Wasserlinie. Aus Gesprächen mit Einheimischen erfuhren sie, dass das Wasser hier am Beginn der Schlucht selten so hoch stieg, um Höhlen in dieser Höhe zu überfluten. Die ansässigen Kelten fürchteten sich vor dem Fluss und zogen Behausungen etwas weiter im Landesinneren vor.
»Ehrlich gesagt, nicht viel. Es war in alten Zeiten, als nichts war, weder Sand noch Meer noch kühle Wellen, Erde fand sich nicht, noch Aufhimmel, gähnender Abgrund war und nirgends Gras. Und so weiter …, diese überlieferten Worte wirst du auch kennen. Weiterhin weiß ich nur das, was Nervier mir sagte und das unterscheidet sich deutlich von dem, was ich bisher kannte. Vor langer Zeit leitete einer meiner Vorfahren, mehr Tier als Mensch, meine Ahnenlinie ein.«
»Ich stamme aus einem alten Geschlecht«, begann Kendric. »Mehrere Generationen kann ich zurückverfolgen. Alle Männer meiner Familie wirkten als Druiden. Wir lernen schon als Kinder. Unsere Bestimmung wird sehr früh festgelegt. Ich erinnere mich an keine Zeit, in der ich nicht auf meine zukünftige Aufgabe vorbereitet wurde. Am Beginn unseres Volkes stand Mutter Erde. Der Anfang der Druiden war der Baum Dru, den du als Eiche bezeichnest. Deshalb unser Titel Druide. In der Nähe des Ortes, an dem wir uns zum ersten Male trafen, befindet sich eine Lichtung, die von sieben Eichen, umstanden ist. Ob es eine Laune der Natur ist oder unsere Vorfahren die Bäume gepflanzt haben, ist nicht überliefert. Sie stehen für uns schon immer dort. Der Hain ist unser heiligster Ort, der vom Zauber der Natur umwoben ist. Andere Stämme meines Volkes müssen sich einen solchen Platz mit Steinen schaffen. Hier erzählen und singen wir unsere Geschichte. Der Anfang der Welt deckt sich mit dem, was du auch weißt. Doch den Beginn unserer Ahnenlinie kennen wir nicht. Und du weißt, wer deine Ahnenlinie begonnen hat?«
Читать дальше