»Du musst die Wände, nicht meine Hügel beobachten«, bemerkte Griet, der Pauls auf ihr ruhender Blick angenehme Erinnerungen an den gestrigen Abend hervorrief. »Es ist nicht weit vom Felsentor, sonst hätte Kendric eine andere Ortsangabe gewählt. Achte auf Abweichungen in der Felsformation.«
»Wir halten alle zehn oder zwanzig Meter an und suchen die Wände mit dem Fernglas ab.« Paul hielt ihr eines hin. Er hatte es am Morgen noch schnell gekauft.
»Das ist eine prima, Idee. Die Strömung ist stark. Wir müssen ans Ufer.«
»Ich halte das Boot schon in der Mitte. Du schaust durch das Glas. Wahrscheinlich weißt du besser als ich, wonach du suchst.«
Griet kniete im Boot und beobachtete von unten nach oben die Wand. Einmal die linke und dann die rechte Seite.
»Nach meinem Gefühl sind wir zu weit runter. Die Spannung, die ich hatte, ist weg. Wir beginnen noch einmal von vorn«, sagte Griet nach einer weiteren halben Stunde.
»Aber nicht gegen die Strömung paddeln. Wir sind genauso schnell, wenn wir den nächsten Anlaufpunkt nehmen.« Der Bootsverleih sagte ihnen, dass nach drei bis fünf Stunden, je nach Geschwindigkeit, der erste Ausstieg aus der Schlucht komme.
»Gut. Dann machen wir uns einen schönen Tag.« Griet glitt wie eine Schlange auf ihn zu und an ihm empor. Paul umfasste und streichelte sie.
»Mach mich nicht verrückt. Wir sind nicht allein hier.« Er zeigte auf weitere Boote um sie herum.
»Ich weiß.« Sie nuschelte an seinen Lippen.
Am späten Nachmittag standen sie wieder an der Flussbiegung hinter dem Felsentor und suchten die Felswände nochmals mit den Ferngläsern ab. Es dauert lange, bis Paul schließlich etwas auffiel. Die Sonne verschwand gerade hinter dem Grat des rechten aufragenden Uferfelsens. Ein V-förmiger Ausschnitt, im oberen Rand der Felswand markierte eine goldene Linie Sonnenlicht, die auf der gegenüberliegenden, von ihnen aus gesehen linken, Seite herunterlief.
»Griet.« Er bemühte sich um einen möglichst ruhigen Tonfall. »Diese Linie des Sonnenlichts auf der Wand.«
Sie nahm ihr Glas von den Augen, um es gleich wieder anzusetzen.
»Du hast es. Ein Zeichen der Natur. Ich kann es mir richtig vorstellen. Der Druide, der gleichzeitig, Kelte ist, steht an dieser Stelle und bekommt diesen Fingerzeig. Ob er wohl die gleiche Aufregung spürte, wie ich jetzt? Die Sonne zeigte ihm den Weg.« Sie sprudelte die Worte enthusiastisch und mit leuchtenden Augen hervor.
Binnen Minuten verschwand die Sonne und damit auch die Markierung.
*
Früh am nächsten Morgen paddelten sie zu der Stelle, an der sie am Abend den Sonnenstrahl ausmachten. Am gegenüberliegenden Ufer der Felswand zogen sie das Boot auf einen kleinen Uferstreifen und beobachteten die Stelle, die der Sonnenstrahl markiert hatte.
»Das sind vierzig, fünfzig Meter«, zeigte Griet nach oben.
»Wenn nicht mehr«, meinte Paul, die Wand absuchend. »In den letzten zweitausend Jahren kann der Fluss sich nicht so tief eingeschnitten haben. Lass es mal einen Meter sein, dann ist es schon sehr viel.«
»Du hast recht. Wenn es die Stelle ist, die wir suchen, muss da noch etwas sein.« Angespannt glitten die Augen über Felswand.
»Hier. Schau mal meinen Finger entlang.« Paul machte wieder die Entdeckung. »Diese Dellen sind zu gleichmäßig, als dass sie von der Natur geschaffen wurden.«
»Möglich. Lass uns rüber paddeln.«
»Da sind Einkerbungen, wie Tritte. Aber das sind, bestimmt vier Meter von hier unten. Da kommen wir nie hoch.« Griet zog fröstelnd die Schultern zusammen. Erst gegen Mittag würde die Sonne die Schlucht erreichen. »Vielleicht hatte der Fluss damals mehr Wasser. Ich habe gehört, dass er auch heute noch nach Regenfällen blitzschnell um zehn Meter ansteigen kann.«
»Mit so einem Wurfhaken, wie ihn Bergsteiger benutzen, können wir auch nichts tun. Die Wand ist zu glatt«, Paul schüttelte den Kopf. »Wir müssen von da drüben«, er zeigte nach rechts auf einen Geröllhang, »schräg nach oben klettern.«
Paul zog das Boot vollends auf das schmale Ufer, während Griet den Weg suchte, der sie nach oben gelangen ließ. An einem Band, das sich auf zwei Meter Breite am Felsen entlang zog, hob Paul den Arm.
»Warte. Hier sind Einkerbungen von Menschenhand.« Er wischte mit der Hand darüber. Griet schob ihn zur Seite.
»Das ist tatsächlich eine Schrift, und zwar die gleichen Zeichen, wie auf der Scheibe. Wir sind richtig. Ich wusste es doch.« Sie sah mit glänzenden Augen hoch. »Ich hätte sie glatt übersehen. Schau. Die Zeichen laufen das gesamte Band entlang.« Aufgeregt drückte sie ihre Nase fast gegen den Felsen. »Da vorne müssen wir Aufnahmen machen.«
»Ja später. Wenn wir zurückkommen. Vor uns scheint es nicht weiter zu gehen.« Er ging auf das scheinbare Ende ihres Weges zu. Dem Auge verborgen, lag hinter der Felsnase ein Tritt, der sie auf weitere Einkerbungen zuführte. Auch wenn diese ausgewaschen wirkten, tendierten Griet und Paul zu der Ansicht, dass sie von Menschenhand geschaffen wurden. Vor allem vor dem Hintergrund der Ähnlichkeit der Zeichen, mit denen der Scheibe. Relativ leicht stiegen sie eine verwaschene Treppe nach oben, bis sie auf einem kleinen, von unten nicht auszumachenden, Plateau standen. Der Eingang hinter die Wand wurde durch Felsbrocken versperrt.
»Denkst du, hier ist es?« Sie schaute Paul fragend an.
»Ich glaub‹ schon. Muss auch. Wir kommen nicht weiter nach oben. Was sagt dein Gefühl?«
»Du fragst mich nach meinem Gefühl? Was ist denn jetzt los?«
»Na ja. Ich bin lernfähig. Schließlich hattest du einige Male recht.« Er schaute sie unsicher an.
»Meine innere Stimme sagt, wir sind richtig.« Sie klopfte ihm leicht auf die Schulter.
»Und jetzt? Meinst du, hinter dem Geröll ist was?«
Griet räumte schon Steine weg und reichte sie einfach nach hinten. Paul nahm sie entgegen und warf sie den Hang hinunter. Die größeren Brocken rollten sie gemeinsam zur Kante. Nach geraumer Zeit drückten beide ihre Rücken durch.
»Nimmt das nie ein Ende?« Paul liefen wahre Schweißbäche den Körper hinunter. »Das schaffen wir nie. Und nachher stehen wir vor einer Felsenwand.«
»Da ist etwas. Ich spüre es genau.«
»Gut. Aber jetzt Pause. Ich steige hinunter und hole unsere Sachen. Ich habe Hunger und Durst.« Nach einer knappen Stunde gelangte er wieder auf das Plateau. Ihre beiden Rucksäcke hatte er rechts und links über den Schultern hängen.
Griet lag gegen den Felsen gelehnt und schlief. Schmunzelnd beobachtete er sie.
»Ich bin eingeschlafen. Ich bin wohl etwas müde. Wovon wohl?«, machte sie, mit geschlossenen Augen, eine Anspielung auf die letzte Nacht.
Kauend betrachteten sie den schmalen Gang, der mittlerweile einen Meter in den Felsen strebte. Die Sonne schob sich über die Kante der Schlucht und heizte den Kalkstein auf. Es wurde unerträglich heiß.
»Ja«, rief Griet nach unendlich langer Zeit triumphierend. »Ich wusste es.«
Paul zwängte sich an ihr vorbei. Aus dem Steinhaufen vor ihnen strömte an der Decke kühle Luft heraus, die seinen verschwitzten Körper erzittern ließ.
»Tatsächlich. Dahinter ist etwas.« Sie mobilisierten ungeahnte Kräfte und machten sich nicht mehr die Mühe, den Abraum wegzuschaffen. Sie warfen ihn hinter sich.
»Ich hole eine Lampe.« Paul lief nach draußen. Er brachte die Rucksäcke mit, als er zurückkehrte. Griet kletterte schon durch das entstandene Loch.
»Komm«, rief sie, als sie den Schein der Taschenlampe entdeckte. Das Licht leuchtete gleißend hell. Eine dieser neuen Lampen mit Halogenlicht. Paul hatte lange gebraucht, sie zu bekommen. Die Knopfbatterien hielten ewig. Dennoch hatte er einen beachtlichen Vorrat eingesteckt. »Hier geht der Gang weiter. Das Tageslicht von vorne reicht nicht mehr.«
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