Eine schlanke Dame um die sechzig, in langer Tracht kommt auf uns zu. Sie streckt uns die Hände entgegen und begrüßt uns freundlich. „Ich bin Christiane Herbst, Alexanders Mutter. Sie müssen die Gruppe sein, die unser Sohn telefonisch angekündigt hat. Er hat nicht übertrieben. Sie sind sehr hübsch. Sprechen Sie tatsächlich Deutsch?“ Ich bin so überrumpelt, dass ich kein Wort hervorbringe. Hübsch ? Interessant, dass ihm das trotz allem aufgefallen ist. Misstrauisch ergreife ich die dargebotene Hand. Ich vermute eher, dass Alexander mich als „Oberzimtzicke“ avisiert und Christiane das eigenmächtig umgetauft hat. Sie ignoriert meine Verwunderung.
„Entschuldigen Sie meine Neugier. Ich freue mich immer, wenn ich auf Landsleute treffe, die hier leben.“ Die Frau ist so nett, ich kann sie kaum mit dem grantigen Boots-Alexander, der mein Handy auf dem Gewissen hat, in Verbindung bringen. Die Verwandtschaft ist nicht zu leugnen. Dieselben blauen Augen. Dass mir das auffällt? Ein ungewohntes Kribbeln macht sich in meinem Magen breit.
„Ich spreche auch Deutsch“, schaltet Valérie sich dazwischen, die stolz darauf ist, zweisprachig erzogen worden zu sein. Ich besinne mich meiner Erziehung.
„Mein Name ist Elle Sommerfeld und das ist meine Tochter Valérie. Meine Eltern stammen aus Deutschland. Wir sind hierhin gezogen, als ich sechs Jahre alt war. Aber Valérie ist in Vancouver geboren.“ Im Affekt streiche ich Valérie über das Haar, was meine Tochter mit einem Augenrollen quittiert. Schnell ziehe ich die Hand zurück.
„Freut mich sehr.“ Ihr Blick ruht einen Moment wohlwollend auf Valérie und mir.
„Sollten Ihre Eltern noch in Vancouver sein, müssen Sie mit ihnen unbedingt in unser Restaurant kommen. Hier ist ein beliebter Treffpunkt für deutsche Einwanderer.“
„Meine Eltern hat das Heimweh vor ein paar Jahren zurück nach Deutschland getrieben. Meine Schwester lebt mit Mann und zwei Kindern dort. Sie wollten in ihrer Nähe sein.“ Man sieht mir anscheinend an, wie sehr ich meine Eltern vermisse, denn Christiane legt mit einer tröstenden Geste ihre Hand auf meinen Arm. Bei so viel Mitgefühl wird meine Kehle eng und ich konzentriere mich zur Ablenkung auf Christianes schmale Finger. Wieder eine offensichtliche Gemeinsamkeit mit ihrem Sohn Alexander. Nach einem kurzen Drücken zieht Christiane die Hand weg.
„Das tut mir sehr leid. Ja, der Ruf der Heimat ist stark. Mein Mann und ich haben auch manchmal Lust, alles stehen und liegen zu lassen und zurückzugehen. Aber wir sind zwei Jahre nach unserer Hochzeit nach Kanada ausgewandert und haben bis auf eine Schwester meines Mannes keine Verwandten mehr in Deutschland. Ich befürchte fast, wir sind jetzt echte Kanadier.“ Ich weiß sofort, was Christiane meint. Genau das ist die unterschwellige Angst meiner Eltern gewesen: die deutsche Identität zu verlieren. Dabei waren sie einst voller Träume nach Kanada ausgewandert um „der deutschen Enge“ zu entkommen. Als meine Schwester Sabine ihr Herz ausgerechnet an einen durchreisenden Deutschen verlor, waren meine Eltern insgeheim erleichtert. Einen besseren Grund nach Deutschland zurückzugehen, als zu ihrer schwangeren Tochter, gab es nicht. Mich hingegen zog nach meiner Modelphase in Paris die Sehnsucht wieder zurück nach Kanada. Obwohl das bedeutet hatte, meine Tochter Valérie ohne Hilfe meiner Eltern großzuziehen.
„Wenn meine Eltern uns das nächste Mal besuchen kommen, werde ich ihnen Ihr Restaurant auf jeden Fall zeigen.“ Christiane lächelt zufrieden. Sie wendet sich an Mister Chang und spricht ihn auf Deutsch an. „Herr Sommerfeld?“ Herr Chang blickt sie freundlich an, reagiert aber nicht.
Valérie entfährt ein Kichern. „Nein, das ist Mister Chang. Er kann kein Deutsch, aber Chinesisch und Englisch. Mama will finanzielle Unterstützung von ihm, deshalb verbringen wir den Tag mit ihm.“ Mir bleibt das Herz stehen. Räuspernd werfe ich meiner Tochter, die zu viele Vokabeln aus meiner Welt aufschnappt, einen Blick zu. Christiane macht einen verwirrten Eindruck und scheint Valéries Aussage zu überdenken. Ich spüre, wie meine Wangen sich erhitzen. Sie denkt doch nicht etwa ... !
„Mister Chang ist heute unser Gast. Er ist ein möglicher Investor in mein Unternehmen. Meine Tochter hat eine sehr blumige Sprache“, korrigiere ich Valéries Aussage. Sichtlich erleichtert, mustert Christiane uns mit wachsamen Augen.
„Dann müssen Sie mit Ihrem Mann einmal bei uns vorbeischauen.“
„Meine Mutter hat keinen Mann. Unsere Familie sind Mama und ich. Mein Vater lebt in Paris.“ Was ist nur in Valérie gefahren? Das geht die fremde Frau nichts an. Was soll sie von mir denken? Christiane scheint der Spruch von Valérie nicht zu stören. Im Gegenteil! Sie mustert mich eindringlich. Ein interessiertes Glitzern stiehlt sich in ihre blauen Augen. Unvermittelt fühle ich mich, als hätte ich einen Test bestanden.
„Wunderbar! Bitte seien Sie heute unsere Gäste.“ Überrumpelt von Christianes Herzlichkeit – oder geht es nur mir so? - lässt sich unsere kleine Gruppe an den Tisch führen. Die Sitzecke aus unbehandelten Holzmöbeln strahlt „deutsche Gemütlichkeit“ aus. Auf den Bänken liegen flaschengrüne Filzkissen. Auch auf dem Tisch befinden sich schlichte Filzuntersetzer. Zu meinem Erstaunen nimmt Christiane ebenfalls Platz. Auf ihr Fingerschnippen hin nähert sich zur sichtbaren Freude von Mister Chang eine Dirndl-Bedienung. Als sie die Speisekarten verteilt, will ich dankend abwinken. Schließlich wartet der Tisch in Chinatown auf uns. Aber Mister Chang starrt so gebannt in das Balkon-Dekolleté, dass ich innerlich umdisponiere.
„Peter. Da bist du ja. Komm zu uns!“ Christiane winkt einem Herrn mit grauem Haar zu, ebenfalls in Tracht. Er hat das Restaurant durch eine Seitentür betreten und hält einige Papiere in der Hand. Instinktiv weiß ich, das ist Alexanders Vater. Er hat die gleiche Aura wie sein Sohn. Eine männliche, raumbeherrschende Präsenz. Moment mal. Habe ich Aura gedacht? Jetzt geht es mit mir durch. Dieser Holzklotz Alexander hat außer schlechter Laune überhaupt keine Aura. Christiane zieht den Mann auf den Platz neben Valérie.
„Stell dir vor, unser Sohn hat diese hübsche Landsmännin kennengelernt.“ Christianes Augenbrauen sind bei dem Satz bedeutungsvoll hochgezogen. Mir wird mulmig zumute. Was geht hier vor? Bin ich auf der Fleischbeschau eines Heiratsmarktes?
Peter hält mir die Hand hin und ich erkenne das Lächeln wieder, das sein Sohn mir zaghaft geschenkt hat. Bevor ich ihn in seine Schranken verwiesen habe.
Ich senke den Blick, irritiert von meinen Gedanken, und öffne die Speisekarte. Sofort bin ich abgelenkt und schmunzle. Sämtliche deutsche Leibgerichte meiner Schwester und mir sind aufgeführt: Schweinebraten, Kohlrouladen, Blaukraut, Heringsstipp, Königsberger Klopse, Kartoffelpuffer, und, und, und. Mein Magen jauchzt vor Freude und das Wasser läuft mir im Munde zusammen. Am liebsten hätte ich die Speisekarte rauf und runter bestellt. Merkwürdig, dass mir das Restaurant bislang nie aufgefallen ist. Gleichzeitig sticht mir die Sehnsucht nach meiner Mutter ins Herz. Sie kann diese Köstlichkeiten seit der Rückkehr nach Deutschland höchstens einmal im Jahr für mich zubereiten. Obwohl ich passabel koche, schmecken sie einfach nicht so gut wie bei ihr. Ich hebe die Augen. Anscheinend bin ich die einzige die hungrig ist und die Speisekarte studiert habe. Valérie unterhält sich lebhaft mit Christiane. Mister Chang lächelt und studiert die Konstruktion der Holzbalken an der Decke.
„Mister Chang“, wende ich mich ihm zu, „wir könnten hier etwas essen. Die deutsche Küche ist sehr schmackhaft und passt hervorragend zu meinem deutschen Design.“ Mister Chang nickt höflich, was ich als sein Einverständnis werte.
„Meine Mama sagt, in Heidelberg gibt es überhaupt keine Dirndl. Stimmt das? Ich war leider noch nie in Heidelberg.“ Wieder stöhne ich innerlich, aber Christiane grinst nur.
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